Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
aus der Höhe oder das Hineingeraten in bewegte Maschinen- oder Anlagenteile. (Fischer et. al. 2008) Aufgrund der von ihnen zusammengestellten Daten kommen Fischer und Kollegen (2008: 9) zu dem Schluss: «Der menschliche Gang ist einer der unsichersten Fortbewegungsvorgänge, die es unter Lebewesen in der Natur gibt.»
Niemand wird glauben, dass die Schwierigkeiten und Risiken der aufrechten Haltung in den klassischen Zeiten unbekannt gewesen wären; doch in der Literatur ist von ihnen nicht die Rede. Was als kosmologisch notwendig galt, konnte als Privileg, aber nicht als Risiko wahrgenommen werden. Aristoteles schreibt daher: «Die Aufgabe der Füße ist, einen festen und verlässlichen Stand zu finden.» ( Part. anim. 690a) Und noch Christian Wolff lässt uns treuherzig wissen: «Die Füsse sind Menschen und Thieren gegeben, daß sie feste stehen und sich von einer Stelle in die andere bewegen können. Ein Mensch hat zwei Füsse, damit er desto gewisser stehen kann; denn auf einem Fusse stehet man nicht gewis.» (1725: 561) Beide Autoren begnügen sich damit, eine «Aufgabe» oder Funktion zu benennen; ohne einen Gedanken an die Frage zu verschwenden, ob und in welchem Umfang sie tatsächlich erfüllt wird. Im klassischen Theorierahmen hat die Natur für den Menschen bestens vorgesorgt, sodass in ihm für ein gesteigertes Sturzrisiko kein Platz ist, auch wenn die Tatsache dieses Risikos Aristoteles und Wolff sicher bekannt war. Im Theorierahmen der Moderne hingegen ist die Fürsorge der Natur entfallen und mit ihr die Standsicherheit des Menschen. – Es geht also nicht um die Einsicht, dass Menschen hinfallen können; es geht um den Stellenwert, der diesem Risiko zukommt. Handelt es sich um eine punktuelle Störung der Naturordnung oder um ein Indiz dafür, dass es eine fürsorgliche ‹Ordnung› der Natur gar nicht gibt? Für Arthur Schopenhauer ist offensichtlich, «daß wie bekanntlich unser Gehen nur ein stets gehemmtes Fallen ist, das Leben unseres Leibes nur ein fortdauernd gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod ist: endlich ist eben so die Regsamkeit unseres Geistes eine fortdauernd zurückgeschobene Langeweile.» (1819: 406) Das konstitutionelle «Fallen» des Menschen wird hier zur Metonymie: Es steht als Element der menschlichen Existenzweise für das Ganze dieser Existenzweise. Anderen Autoren, die sich der schopenhauerschen Formulierung vom Gehen als gehemmtem Fallen bedient haben, war an einem solchen metonymischen Gebrauch weniger gelegen; sie wollten lediglich eine Tatsache konstatieren. [46] Aber zum einen wird eine solche Tatsache überhaupt erst im Kontext bestimmter anthropologischer Hintergrundüberzeugungen konstatierwürdig; und zum anderen fällt es dem Leser schwer, sie bloß als eine schlichte Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, und ihr nicht auch eine allgemeine anthropologische Bedeutung zuzuschreiben. Dass die aus der Aufrichtung resultierenden Risiken eine anthropologische oder ‹existentielle› Dimension haben, wird dort besonders deutlich, wo der Vergleich zum Tier gezogen wird: «Der Aufrechte ist vom Sturz bedroht … Wir haben nicht die Sicherheit des Tieres, dessen Körper wohl unterstützt auf seinen vier Beinen ruht … Unser Gehen ist eine Bewegung auf Kredit.» (Straus 1949: 227f.) Die größeren oder geringeren statischen Probleme stehen hier offenkundig für zwei verschiedene Weisen der Existenz in der Welt: Das Tier lebt auf seinen vier Beinen sicher, während der Mensch seine hervorgehobene Körperhaltung mit einem konstitutionellen Risiko bezahlt.
Die im anthropologischen Denken des 20. Jahrhunderts endemische Selbstdiagnose einer spezifischen «Gefährdetheit», «Gewagtheit», «Unsicherheit», «Bedrohungsfähigkeit» des Menschen ist noch auf andere Weise mit dem aufrechten Gang in Verbindung gebracht worden. Hans Blumenberg etwa lässt uns in seinen nachgelassenen anthropologischen Notizen wissen: «Der Mensch ist ein riskantes Lebewesen, das sich selbst misslingen kann.» (2006: 550) Gemeint ist damit nicht das biologische Existenzrisiko, das der Mensch mit jedem anderen Lebewesen teilt; gemeint ist vielmehr das Risiko eines unerfüllten Lebens: «Nur der Mensch kann leben und dabei unglücklich sein.» Die menschliche Lebensform ist also mit einem doppelten Risiko behaftet: mit dem physischen und dem eudämonischen Risiko. Für Blumenberg ist diese spezifische Risikostruktur tief in die menschliche Natur eingelassen, denn sie ergibt sich aus dem
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