Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Kapitel gehen den Konsequenzen der aufrechten Körperhaltung für das Fühlen und Denken des Menschen nach und rekapitulieren einige der Veränderungen des Denkens, soweit es durch diese Konsequenzen geprägt ist.
25. Gehen und Sprechen
Da nun aber die Hände am Körper angebracht sind, hat der Mund Muße für den Dienst der Sprache. So haben sich uns die Hände als eine Eigenthümlichkeit der sprachbegabten Natur erwiesen …
Gregor von Nyssa
Unter den humanspezifischen Merkmalen hat die Sprache stets eine Schlüsselrolle gespielt. Im Rätsel der Sphinx war sie, wenn auch nur beiläufig, erwähnt worden; und Xenophon hatte sie in seine Liste providentieller Vorzüge des Menschen aufgenommen. Ein Zusammenhang mit der aufrechten Haltung wird nicht namhaft gemacht, obwohl es doch sehr attraktiv gewesen wäre, das zentrale körperliche proprium des Menschen mit einem seiner fundamentalen geistigen Vorzüge zu verknüpfen. Auch ein Hinweis von Aristoteles, nach dem sich beim Menschen aufgrund seiner aufrechten Körperhaltung Blick und Stimme nach vorn richten, ( Part. anim. 662b 21–22) bleibt rätselhaft, da die Stimme auch bei vierfüßigen Tieren nicht nach hinten tönt. Wir müssen mehr als sechs Jahrhunderte warten, bis wir von einem Kirchenvater mehr erfahren.
Ausgehend von der biblischen Deutung des Menschen als Ebenbild Gottes und als Herr der Welt, kommt Gregor von Nyssa auch auf den aufrechten Gang zu sprechen. Es folgt eine Inventarisierung der üblichen Topoi von der Ausrichtung des Menschen auf den Himmel; dem «Blick nach Oben»; dem fürstlichen Abzeichen, das auf die «Königswürde» des Menschen deute; der Differenz zu den gebeugten Tieren; bis zur Befreiung der Hände. Einen großen Schritt über das Übliche hinaus geht der Bischof von Nyssa, wenn er die aufrechte Haltung in seiner Aufzählung auch zur Basis und Voraussetzung der menschlichen Sprache erklärt. Gegenüber den Pflanzen und Tieren zeichne sich der Mensch durch seine Fähigkeit zu Vernunft und Sprache aus; folglich habe sein Körper dieser Fähigkeit entsprechend eingerichtet werden müssen. Das zeige sich an den Händen; allerdings nicht allein und nicht einmal primär an ihrem technischen Nutzen, sondern an der Sprache, die durch sie erst möglich werde. «Denn wenn der Mensch die Hände nicht hätte, so würden seine Gesichtstheile, wie es das Bedürfnis nach Nahrung verlangt, jedenfalls so eingerichtet worden sein, wie es bei den Vierfüßlern der Fall ist, so daß seine Gestalt sich nach vorn strecken und sich in eine Schnauze zuspitzen, die Lippen des Mundes aber sich aufwerfen und schwielenartig, unbeweglich und dick werden würden, um zum Rupfen des Grases geschickt zu sein; es würden dann die Zähne auch eine andere Zunge einschließen, fleischig, fest und rauh, und derartig daß sie im Verein mit den Zähnen das unter das Gebiß Gekommene zu verarbeiten im Stande wäre, oder auch eine geschmeidige und nach den Seiten hin fügsame, wie die der Hunde und der anderen fleischfressenden Tiere, bei welchen sie sich zwischen dem scharfen Gebiß in der Mitte der Zahnreihen gelenksam dahinschmiegt. Fehlten also dem Körper die Hände, wie hätte dann seine Stimme sich artikuliert ausdrücken können, da ja die Theile des Mundes nicht die nach dem Bedürfnis des Lautes richtige Form zulassen würden? Sonach müßte der Mensch nothwendiger Weise entweder blöken, oder meckern, oder bellen, oder wiehern, oder wie Ochsen und Esel schreien, oder irgend welches andere thierische Gebrüll ausstoßen. Da nun aber die Hände am Körper angebracht sind, hat der Mund Muße für den Dienst der Sprache. So haben sich uns die Hände als eine Eigenthümlichkeit der sprachbegabten Natur erwiesen, und so hat ihr Bildner durch sie der Sprache ihre Leichtigkeit verliehen.» ( Opif. Hom. VIII) Diese Überlegungen muten überraschend modern an. Sie scheinen die menschliche Fähigkeit zur kontrollierten Artikulation rein anatomisch und physiologisch zu erklären.
Wir ahnen aber schon, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Gregors Überlegungen stehen in einem schöpfungstheologischen Kontext. Ihr Ziel besteht in dem Nachweis, dass der Mensch aufgrund göttlicher Providenz geschaffen und daher in jeder Hinsicht perfekt ausgestattet sei. Vor allem sei er ein Ebenbild Gottes. Da nun das Göttliche im Menschen mit seiner Vernunft zusammenfalle und da diese ein «körperloses Ding» sei, «so würde das Ebenbild im Besitze der Gnadengabe ohne die
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