Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
fürsorglichen Natur oder einem gütigen Gott verdankt, sondern als Resultat eines naturhistorischen Prozesses, an dem er selbst aktiv beteiligt war. Er ist eine Errungenschaft, die der Mensch sich selbst bzw. seinen Vorfahren verdankt. Zur Selbstaufrichtung war der Mensch zweitens nur bereit, weil sie mit handfesten Vorteilen verbunden war. Diese Vorteile hatte er bitter nötig, weil sein Dasein in einer zur bloßen ‹Natur› gewordenen Welt nicht länger als metaphysisch gesichert gelten konnte. Obwohl selbst eine Quelle von Risiken, dient der aufrechte Gang also vornehmlich der Selbsterhaltung. Die hochfliegenden Deutungen, die ihm ehemals zuteil geworden waren und zum Teil noch werden, verhalten sich parasitär gegenüber dieser Funktion. – Es kommt nun aber noch ein dritter Punkt hinzu, der in den vorangegangenen Kapiteln gelegentlich berührt, aber noch nicht näher betrachtet wurde. Die menschliche Selbsterhaltung weist nämlich eine Besonderheit darin auf, dass sie nicht nur Selbsterhaltung in einer neutralen Natur ist, sondern in einem gewissen Sinne auch aus ihr herausführt. Menschen sichern ihre Existenz ja nicht zuletzt dadurch, dass sie sich eine eigene Welt schaffen: eine ihren Bedürfnissen angepasste Gesellschaft und Kultur. Auch wenn diese spezifisch menschliche Umwelt keine creatio ex nihilo ist und über zahllose Fäden mit der Natur verbunden bleibt, fallen beide doch nicht einfach zusammen. Das moderne Denken hat die Unterschiede zwischen der natürlichen und der sozialen Welt unterstrichen und es schreibt dem Menschen gern einen Teil der Attribute zu, die im klassischen Weltbild dem Demiurgen oder Gott zugekommen waren: Attribute des Schöpfertums. Der für uns relevante Punkt besteht nun darin, dass die aufrechte Körperhaltung als eine entscheidende Voraussetzung für diese aktive kulturstiftende Rolle des Menschen gilt. Ohne seine Selbstaufrichtung hätte er die soziale und kulturelle Welt nicht zu schaffen vermocht, in der er lebt.
Diese spezifisch kulturelle und soziale Existenzweise ist natürlich keine Entdeckung der Moderne; ebenso wenig die Rolle, die der aufrechte Gang als eine Bedingung ihrer Möglichkeit spielt. Dass zwischen beidem Zusammenhänge bestehen, ist bereits in der Antike gesehen worden. Ein Zeugnis davon liefern die Memorabilien , in denen der Sokrates-Schüler Xenophon von den Gesprächen berichtet, die sein Lehrer über die Existenz der Götter und ihre Fürsorge für den Menschen geführt haben soll. Einen Hauptbeweis für diese Fürsorge bilden die körperlichen Vorzüge, die der Mensch gegenüber dem Tier besitzt. Die Götter, so argumentiert Sokrates, «gaben zuerst allein dem Menschen unter allen Lebewesen eine aufrechte Stellung; die aufrechte Stellung gibt doch die Möglichkeit, auch weiter voraus zu sehen, besser zu betrachten, was über uns ist, und geringeres Ungemach zu erfahren; dann gaben sie den übrigen Tieren die Füße, die nur das Gehen ermöglichen; dem Menschen aber teilten sie auch die Hände zu, welche das meiste von dem erarbeiten, durch dessen Besitz wir glücklicher sind als jene. Und während alle Tiere wohl eine Zunge haben, schufen sie allein die des Menschen derart, daß sie mal da, mal dort den Mund anschlagend die Stimme gliedert und wir einander alles mitteilen können, was wir wollen. Und daß sie auch die Liebesfreuden bei den übrigen Lebewesen auf eine bestimmte Zeit des Jahres beschränkt, uns diese jedoch ununterbrochen bis zum Alter gewährt haben.» (Mem. IV,11–14) Es sind also vier Besonderheiten, die der Mensch den Göttern verdankt: den aufrechten Gang; die freien Hände; die Sprache; und die jahreszeitlich unbegrenzte Sexualität.
Das Ziel der Memorabilien bestand wohl vor allem darin, Sokrates posthum gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit zu verteidigen, der zu seiner Anklage und Hinrichtung im Jahre 399 geführt hatte. Die sokratische Lehre musste zu diesem Zweck möglichst schroff von den für verderblich gehaltenen Ansichten der Sophisten abgesetzt werden, zu denen auch die These gehört hatte, der Mensch sei im Vergleich zu den Tieren schlecht weggekommen und mithin von der Natur stiefmütterlich behandelt worden: Er besitze weder die Kraft des Stieres, noch die Schnelligkeit der Pferde; er sei ohne natürliche Waffen und schutzlos der Witterung ausgesetzt. Als ihr locus classicus dieser Lehre gilt der Mythos, den Platon die Titelfigur seines frühen Dialogs Protagoras erzählen lässt; und noch im
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