Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
20. Jahrhundert wurde sie unter dem Markenzeichen ‹Mängelwesen› neu aufgewärmt. Dass der Mensch naturseitig schlecht ausgestattet sei, ist natürlich mit einem kosmologischen Weltbild unvereinbar, wie es von Platon und Aristoteles, von den Stoikern und später von den Christen vertreten wurde. Xenophon wollte seinen Lehrer als Vordenker dieser Denktradition rehabilitieren, die dem göttlichen Wirken alle Türen öffnet und folglich mit den Forderungen der Frömmigkeit vereinbar ist. Zwei Schritte waren zu tun, um dies zu erreichen. In einem ersten Schritt musste ein Wechsel der Vergleichsbasis herbeigeführt werden. Wo die Vertreter der Mängelwesen-These einzelne körperliche Eigenschaften des Menschen mit denen ausgewählter Tiere verglichen, wurden nun die intellektuellen und kulturellen Leistungen hervorgehoben, die den Menschen von seiner körperlichen Ausstattung mehr oder weniger unabhängig machen. Er ist zwar durch seine Nacktheit der Witterung stärker ausgesetzt als die Tiere, kann sich mit Hilfe seiner Intelligenz und seiner Geschicklichkeit aber wärmende Kleidung verschaffen. Allgemein: Er schafft eine Kultur, die die ‹Mängel› seiner körperlichen Ausstattung kompensiert und letztlich sogar in Vorzüge verwandelt. Der zweite Schritt bestand darin, diese Intelligenz und Geschicklichkeit auf die Fürsorge der Götter oder einer vernünftig handelnden Natur zurückzuführen. Was sich bei oberflächlicher Betrachtung wie eine stiefmütterliche Behandlung des Menschen ausnimmt, erweist sich dann als ein providentieller Schachzug, der ihm seine Überlegenheit über alle Tiere sichert. In Xenophons Sokrates-Referat sind beide Schritte erkennbar.
Seine Liste der menschlichen Vorzüge beginnt mit dem aufrechten Gang, der es uns ermöglicht, «weiter voraus zu sehen, besser zu betrachten, was über uns ist». Damit wird die kosmologische Funktion des aufrechten Ganges evoziert und der Mensch als Betrachter des himmlischen Schauspiels eingesetzt. Doch schon die anschließende Formulierung weist in eine andere Richtung. Wenn gesagt wird, die aufrechte Haltung gebe die Möglichkeit, «geringeres Ungemach zu erfahren», so wird damit offenbar auf sehr irdische Vorteile angespielt, die mit dieser Körperhaltung verbunden sind. Diese Wendung ins Irdische wird durch das Folgende bekräftigt. Denn mit den freien Händen, der Sprache und den unbegrenzten Liebesfreuden, werden körperliche Voraussetzungen für die kulturerzeugende Praxis des Menschen angeführt. Diese werden im Anschluss an die zitierte Stelle noch durch eine Liste seelischer Vorzüge ergänzt, die ihm Schutz vor Hunger, Durst, Hitze, Kälte oder die Heilung von Krankheiten ermöglichen. Im Hinblick auf den hier vornehmlich interessierenden Punkt bleibt der xenophontische Bericht allerdings zweideutig. Man kann ihn als eine Liste voneinander unabhängiger Vorzüge des Menschen verstehen, zu denen neben dem aufrechten Gang auch die Sprache, der unbegrenzte Sex, der Schutz vor Krankheiten etc. gehören. Eine stärkere Lesart würde sich ergeben, wenn die aufrechte Haltung als Voraussetzung für die weiteren Vorzüge ausgewiesen werden sollte. Für diese zweite Lesart spricht, dass die zitierte Passage mit dem aufrechten Gang einsetzt und dann sofort zu den freien Händen fortschreitet; diese existieren nicht einfach ‹neben› dem aufrechten Gang, sondern setzen ihn voraus. Ein solches Bedingungsverhältnis ist allerdings im Hinblick auf die übrigen genannten Vorzüge weniger offensichtlich. Inwiefern könnte der aufrechte Gang beispielsweise eine Bedingung für die Sprache sein, vom unbegrenzten Sex ganz zu schweigen?
Da wir bei Xenophon keine Antwort darauf finden, wollen wir seine Liste als eine Agenda auffassen, an der spätere Theoretiker weitergearbeitet haben. Wir werden also die bisherige chronologische Ordnung der Darstellung verlassen und separat voneinander einige der Gelenkstellen näher betrachten, an denen der aufrechte Gang und die Kultur miteinander verbunden sind. Drei davon tauchen auf der xenophontischen Liste auf: die freien Hände, die Sprache und der jahreszeitlich unbegrenzte Sex. Sie werden in den folgenden drei Kapiteln erörtert. Das anschließende Kapitel [Kap. 27] nimmt einen Perspektivenwechsel vor. Es fragt nicht danach, welche Bedeutung der aufrechte Gang für die Gesellschaft und die Kultur hat; sondern wie Gesellschaft und Kultur umgekehrt auf ihn und seine Wahrnehmung zurückwirken. Die beiden letzten
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