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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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Plessner seine Vorlesung hielt, lag die desillusionierende Erfahrung des ersten Weltkriegs hinter ihm, dass nicht nur Individuen versagen können; und wenn es dafür einer Bestätigung bedurft hätte, wurde sie durch das Hitlerregime geliefert, das er unmittelbar vor Augen hatte. Seine Vorlesung war der Abgesang auf einen anthropologischen Triumphalismus, der schon seit längerem gekränkelt hatte und jetzt endgültig seine Hohlheit offenbarte.
    In der Deutungsgeschichte des aufrechten Ganges lässt sich dieses Kränkeln an dem Aufkommen eines Motivs nachverfolgen, das unter der Vorherrschaft des klassischen Paradigmas bestenfalls marginal gewesen war. Seit dem 18. Jahrhundert wurde nämlich zunehmend das Risiko betont, das mit der Aufrichtung verbunden ist. So hatte Moscati zu Beginn seiner Festrede den mit der Aufrichtung verbundenen Verlust an Sicherheit hervorgehoben, dem durch eine beständige Muskelspannung entgegengewirkt werden müsse. (1771: 19–22) Dabei war er sich über den statisch entscheidenden Punkt im Klaren: Bei einem auf zwei Beinen stehenden Körper ist die Fläche unter dem Körperschwerpunkt deutlich kleiner als bei vierfüßigen Tieren. Obwohl er das damit verbundene Sturzrisiko deutlich zu marginalisieren versucht, kann auch ein ansonsten vom aufrechten Gang so begeisterter Theoretiker wie Johann Gottfried Herder an ihm nicht mehr ohne weiteres vorbeigehen. «Der Mensch hat den Königsvorzug, mit hohem Haupt, aufgerichtet weit umherzuschauen, freilich also auch vieles dunkel und falsch zu sehen, oft sogar seine Schritte zu vergessen und erst durch Straucheln erinnert zu werden, auf welcher engen Basis das ganze Kopf- und Herzensgebäude seiner Begriffe und Urteile ruhe; indessen ist und bleibt er seiner hohen Verstandesbestimmung nach, was kein anderes Erdengeschöpf ist: ein Göttersohn, ein König der Erde.» (1784: 134f.) Bleibt der Mensch ungeachtet aller Gefahren des Strauchelns hier noch der «König der Erde», so bleibt in den nachfolgenden Zeiten immer weniger Spielraum für solche Beschwichtigungen. Die sozialen Verwerfungen des 19. und die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts spielen dabei eine Schlüsselrolle.
    Aber auch jenseits aller weltgeschichtlichen Desaster erweist sich die zweifüßige Haltung und Fortbewegung des Menschen als eine beständig sprudelnde Quelle von Risiken. Die empirischen Befunde ganz unterschiedlicher Forschungsrichtungen konvergieren in der Einsicht, dass wir mitten im täglichen Leben allenthalben vom Sturz bedroht sind. Auf die intrikaten statischen Probleme bei der Konstruktion humanoider Roboter muss nicht noch einmal eingegangen werden. Verwiesen sei aber auf medizinische Untersuchungen zur Komplexität der Gleichgewichtsregulation beim Menschen. Der Übergang in die aufrechte Haltung ist mit einer Verlagerung von 500–700 ml Blut aus den mittleren Körperregionen in die unteren Gliedmaßen verbunden. Ohne Gegenregulation durch das autonome Nervensystem führt der dadurch auftretende Gravitationsstress zu orthostatischer Hypotonie: zu einem deutlichen Abfall des Blutdrucks in den Gefäßen oberhalb des Herzens. Zu den dadurch auftretenden Symptomen gehören Schwindel, Sehstörungen, Ohmacht, Rückenschmerzen, Oligurie und kognitive Defizite. (Mathias 2002: 237; cf. ausführlicher den von Smith 1990 herausgegebenen Sammelband) Da die Prävalenz der orthostatischen Hypotonie mit dem Alter deutlich zunimmt, sind vor allem ältere Menschen stark gefährdet. Bei über 65jährigen geht die Hälfte aller Krankenhauseinweisungen auf Stürze und ihre Folgen zurück; und Stürze gehören zu den häufigsten Todesursachen in diesem Alter. (Tideiksaar 2000: 21ff.) Damit lässt die Unfallforschung keinen Zweifel daran zu, dass Stürze in Folge von Ausrutschen, Stolpern, Umknicken und Fehltreten im Heim- und Freizeitbereich auch unabhängig vom Alter der wichtigste Unfallschwerpunkt sind: Von den 5,36 Millionen Unfällen mit ärztlicher Versorgung in Deutschland im Jahre 2000 entfielen 1,28 Millionen (= 23,8 %) auf die Ursache ‹Sturz in der Ebene›. Ähnliches gilt für den Bereich der Arbeits- und Wegeunfälle: An den Arbeitsplätzen der gewerblichen Wirtschaft ereigneten sich im Jahre 2002 nahezu 191.000 Stolper-, Rutsch- und Sturzunfälle; hinzu kommen 20.000 Wegeunfälle. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Stolpern, Umknicken und Fehltreten auch zum Auslöser für weitere schwerwiegende Unfälle werden können, darunter etwa das Abstürzen

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