Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Gang lernen; auch die Erwachsenen beherrschen ihn nicht, zumindest nicht richtig.
Wir übergehen die irritierende Frage, inwieweit eine durch solche Programme korrigierte Gangart als ‹natürlich› angesehen werden kann; und wenden uns abschließend den längerfristigen Perspektiven zu, die das aufrechte Gehen unter den Bedingungen der Zivilisation hat. Zu befürchten ist ja, dass die angesprochenen Korrekturprogramme die gewünschten Effekte nicht erzielen, dass Haltungsschäden und Rückenschmerzen eher zunehmen werden. Hinzu kommt, dass die Entwicklung der Zivilisation noch nicht an ihr Ende gekommen ist, sodass sich der Homo sapiens mit seiner vor vielen Jahrtausenden entstandenen biologischen Konstitution in einigen hundert Jahren noch viel stärker als ein lebendes Fossil ausnehmen wird, als dies bereits heute der Fall ist. Im Schlussteil seines 1964 erschienenen theoretischen Hauptwerks Summa technologiae hat Stanislaw Lem daher die Auffassung vertreten, dass der Mensch in einer künftig weit vorangeschrittenen technischen Zivilisation schlecht als letztes Relikt einer unveränderten Natur zurückbleiben könne. Schon heute erweise er sich als höchst unvollkommen und daher verbesserungsbedürftig, in Zukunft würden seine Defizite noch krasser zutage treten. Dies alles sei auf das aus ingenieurtechnischer Sicht unbefriedigende Konstruktionsverfahren der Evolution zurückzuführen. Wir wundern uns nicht, dass der aufrechte Gang als ein Paradebeispiel für evolutionäre Stümperei herhalten muss. «Die Evolution hat, als sie unsere Gattung formte, ungewöhnlich schnell gearbeitet. Die ihr eigentümliche Tendenz, Konstruktionslösungen von einer früher entstandenen Gattung beizubehalten, hat unsere Organismen mit einer Reihe von Mängeln belastet, die unseren vierbeinigen Vorfahren unbekannt sind. Bei ihnen braucht das Becken nicht die Last der Eingeweide zu halten. Da es sie beim Menschen stützen muß, haben sich Muskelbänder entwickelt, die den Geburtsvorgang bedeutend erschweren. Die aufrechte Haltung hat sich gleichfalls auf den Blutkreislauf nachteilig ausgewirkt. Die Tiere kennen keine Krampfadern, eine der Plagen des menschlichen Körpers. Die gewaltige Zunahme der Hirnkapsel führte zu einer solchen rechtwinkligen Verdrehung des Rachenraumes (dort, wo er in die Speiseröhre übergeht), daß sich an dieser Stelle Luftwirbel bilden, mit der Folge, daß sich an den Rachenwänden ungewöhnliche Mengen von Aerosolen und Mikroorganismen ablagern, wodurch der Rachen zum Einfallstor einer großen Zahl ansteckender Krankheiten wurde.» (509) Wir kennen ähnliche Überlegungen von Moscati und Clevenger. Der charakteristische Unterschied zu ihnen besteht darin, dass Lem es nicht bei der Konstatierung der Übel belässt, sondern einen ehrgeizigen Therapieplan vorlegt, der nicht speziell auf die Körperhaltung bezogen ist, diese aber einschließt. Dieser Plan zielt auf eine vollständige «Rekonstruktion» der menschlichen Natur und kann in drei Etappen gegliedert werden. (502f.) Zunächst wird der uns bekannte Organismus bei Bedarf durch medizinische Eingriffe punktuell repariert; dies ist das Stadium, in dem wir uns heute noch befinden. Auf der zweiten Stufe werden die Evolutionsgradienten der Natur schrittweise durch menschliche Ziele ersetzt; die Evolution wird durch eine «Autoevolution» abgelöst, die «immer vollkomme nere Menschentypen hervorbringen soll». Auf der dritten Stufe wird diese noch immer biologische Strategie aufgegeben. Die Frage, wie das vernunftbegabte Wesen beschaffen sein soll, wird vollkommen neu gestellt und beantwortet. Dabei können dann auch Konstruktionslösungen gewählt werden, die der natürlichen Evolution unerreichbar waren: Lösungen, die auf anderen Arten der Energieversorgung beruhen, die andere Steuerungssysteme implementieren und die andere Materialien verwenden. Im Zuge eines solchen Totalumbaus gibt es natürlich keinen Grund, ausgerechnet den aufrechten Gang beizubehalten.
Man kann angesichts der Kühle, mit der hier ein über Jahrtausende hinweg für menschheitskonstitutiv gehaltenes Merkmal zur Disposition gestellt wird, erschrecken; und man kann derlei Pläne für verwerflich halten. Doch welches Argument haben wir für diese Verwerflichkeit, wenn es richtig ist, dass der aufrechte Gang phylo- wie ontogenetisch unser eigenes Werk ist; dass sein Vollzug zweitens eine aktive Leistung ist, die wir selbst erbringen; und dass drittens die Gesellschaft ohnehin seit
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