Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
aufrechter Haltung verfasst hatten. (Brinol et. al. 2009)
Abb. 10: Die Körperhaltung als Determinante der Befindlichkeit.
Zur Erklärung dieses Einflusses der Haltung wird in der Regel die auf Charles Darwin und William James zurückgehende Feedback-Hypothese herangezogen, nach der körperliche Zustände und Veränderungen auf den emotionalen Zustand zurückwirken oder mit diesem emotionalen Zustand identisch sind. Klar ist demnach, dass die jeweils spezielle ‹Ausführung› der aufrechten Körperhaltung kein bloßes Accessoire des eigentlichen, geistigen oder inneren Menschen ist.
Das bestätigt sich, wenn wir über die individuelle Ebene hinausgehen und uns der Gattungsebene zuwenden. Wir haben am Beispiel der Sprache bereits gesehen, dass auch ‹innere› Gattungsmerkmale auf das ‹äußere› Gattungsmerkmal der aufrechten Haltung zurückgeführt werden können. Neben der Sprache betrifft dies vor allem die Idee des animal rationale, nach der der Mensch als einziges empirisches Wesen zu vernünftigem Denken befähigt (wenn auch nicht immer geneigt) ist. Ohne aufrecht zu gehen und zu stehen, würde der Mensch demnach entweder nicht oder zumindest nicht so gut denken. Zwei Varianten dieser These sind uns bisher begegnet. Nach Aristoteles gibt es einen über die Lebenswärme vermittelten, also indirekten Zusammenhang zwischen der senkrechten Körpergestalt und der Intelligenz; und in evolutionärer Sicht schafft erst die Aufrichtung die Möglichkeit zum freien Gebrauch der Hände, zur Sprache, zur Entfaltung der Intelligenz und damit auch zum Denken. – Einen anderen Ansatz hat Richard Cumberland, Bischof von Peterborough, am Ende des 17. Jahrhunderts entwickelt. Um die von Hobbes vertretene These vom Menschen als einem ausschließlich selbstinteressierten Wesen zu widerlegen und durch eine ebenso naturalistische Theorie der menschlichen Benevolenz zu ersetzen, griff er auf die avançiertesten Errungenschaften der zeitgenössischen Naturwissenschaften zurück und knüpfte folgende Gedankenkette: Die aufrechte Haltung fördert die Blutzirkulation; das ohnehin große menschliche Gehirn wird auf diese Weise besser mit «Lebensgeistern» versorgt als es bei anderen Tieren der Fall ist; die Leistungsfähigkeit des Gehirns ist daher beim Menschen größer als bei Tieren; Menschen sind daher in der Lage, die aus der Vernunft resultierenden Verpflichtungen umfassend zu erfüllen. Da diese Verpflichtungen auch die moralischen Normen umfassen, ist damit nachgewiesen, dass der Mensch zu einem vernünftigen und wohlwollenden Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber disponiert ist. ( Treatise II,XXIV) Für Cumberland steht die Intelligenz also nicht allein im Dienste der Welterkenntnis oder der technischen Daseinsbewältigung, sondern im Dienste der Moral. Genau deswegen ist der Mensch aufrecht. Große Resonanz hat dieser Ansatz allerdings ebenso wenig gefunden wie die Versuche anderer Autoren, die Moral mit dem aufrechten Gang in Verbindung zu bringen. [29]
Einflussreicher war die Idee, dass unsere intellektuelle Aneignung der Welt durch die ‹Stellung› (mit)bedingt ist, die wir in ihr einnehmen. Menschliches Erkennen ergibt sich nicht aus der direkten Konfrontation eines reinen Geistes mit äußeren Objekten; sondern aus einer über den Körper und seine Aktionen vermittelten aktiven Wechselwirkung mit der Realität. In den neueren Kognitionswissenschaften spricht man gern Englisch und daher von «embodied cognition». Das Erkennen ist nach dieser Auffassung kein ausschließlich innerer Vorgang, kein inneres Operieren mit Symbolen beispielsweise, sondern setzt eine physische Interaktion mit der Umwelt voraus. Der Körper ist das unabdingbare Medium dieser Interaktion und seine Struktur bleibt dem Denken nicht äußerlich. Das schließt auch den aufrechten Gang ein; er konstituiert eine bestimmte Perspektive auf die Welt, die zunächst auf der Wahrnehmungsebene zur Geltung kommt. – Die Grundidee ist natürlich nicht neu. In einer auf das menschliche Raumverständnis bezogenen Fassung finden wir sie bereits in einem vorkritischen opusculum Immanuel Kants. «In dem körperlichen Raume lassen sich wegen seiner drei Abmessungen drei Flächen denken, die einander insgesammt rechtwinklicht schneiden. Da wir alles, was außer uns ist, durch die Sinnen nur in so fern kennen, als es in Beziehung auf uns selbst steht, so ist kein Wunder, daß wir von dem Verhältniß dieser Durchschnittsflächen zu unserem Körper den
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