Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
jeher einen formenden Einfluss auf ihn ausübt? Wäre seine Abschaffung nicht lediglich die definitive soziale Formung unserer Haltung und Fortbewegungsweise? Wir lassen diese ethischen Fragen offen und vergegenwärtigen uns stattdessen das Zusammenfließen zweier Ströme neuzeitlichen Denkens in den lemschen Zukunftsplänen. Zum einen speisen sie sich aus dem noch immer anwachsenden Strom evolutionären Denkens, der die aufrechte Haltung als eine kontingente Anpassung an kontingente Randbedingungen erscheinen lässt; und zum anderen aus dem Strom mechanistischen Denkens [Kap. 16], der die menschlichen «Gehwerkzeuge» als eine Konstruktion unter Naturgesetzen ausweist, die ebenso Raum für andere Konstruktionen gelassen hätten. Die brodelnde Mischung beider Ströme lässt einen aktivistischen Gedankenfluss entstehen, der den aufrechten Gang zu einer technisch kontingenten Problemlösung macht: Zu einer Problemlösung, die nicht nur anders sein könnte, sondern die wir auch anders machen können.
Nur wenig deutet darauf hin, dass es tatsächlich soweit kommen wird. Aber dass dieser Zustand gedacht werden kann; dass er unter den Voraussetzungen der Moderne wahrscheinlich sogar gedacht werden muss, ist eine Tatsache, die aus mindestens zwei Gründen hervorgehoben zu werden verdient. Zum einen steht die Idee einer technischen Überwindung des aufrechten Ganges in einer gewissen Spannung zu ihren eigenen Grundannahmen. Wenn der aufrechte Gang nämlich eine evolutionäre Voraussetzung für die Genese von Technik überhaupt war, dann wäre seine schließliche Abschaffung nur eine der vielen Konsequenzen, die er selbst kumulativ hervorbrachte. Zum anderen erscheint der aufrechte Gang in dieser (re)konstruktiven Perspektive als eine Art Apparatur, derer die Menschen sich bisher erfolgreich bedient haben, deren Abschreibungsfrist nun aber näher rückt. Das ist genau der Instrumentalismus, den wir bei Platon, Aristoteles, Galen oder Gregor von Nyssa als ein Element des kosmologischen Denkens kennengelernt haben. Ausgerechnet in der Moderne feiert dieser Instrumentalismus offenbar einen praktischen Triumph. Es leuchtet ja ein, dass ein Instrument ersetzt werden sollte, wenn ein effizienteres zur Verfügung steht.
28. Kein Accessoire des eigentlichen Menschen
Im Zeitalter der höchsten Urtugend … lebte das Volk wie Hirsche in freier Wildbahn. Die Menschen waren aufrecht und korrekt, ohne es zu wissen, und übten damit Gerechtigkeit.
Zhuangzi
Ob es tatsächlich so weit kommen wird, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Die Idee einer technischen Überwindung des aufrechten Ganges ist aber auch unabhängig von ihren Realisierungschancen beachtenswert. So innovationsfreudig sie sich nämlich gibt und so modern sie in einer Hinsicht ist, so traditionalistisch ist sie in einer anderen. Zu ihren Voraussetzungen gehört ja eine Auffassung vom menschlichen Körper als einem kontingenten Apparat, der dem eigentlichen, dem inneren Menschen wenn schon nicht fremd, so doch äußerlich ist. Diesen Instrumentalismus haben wir bei Platon, Aristoteles, Galen oder Gregor von Nyssa als ein Element des kosmologischen Denkens kennengelernt. Für Platon war der menschliche Körper eine Art «Fahrzeug»; ( Tim . 44c) eine Fortbewegungsmaschine, mit deren Hilfe die Seele durch die materielle Welt navigiert. Bisher mag diese Maschine nützlich gewesen sein, jetzt aber zeichnet sich ihre Ersetzbarkeit durch eine effizientere ab. –Doch so groß der Einfluss des Instrumentalismus in der Moderne auch war und ist, seine Herrschaft ist nicht unumstritten. Intuitiv will nicht jedem einleuchten, dass der Körper lediglich ein Werkzeug der Seele oder der Intelligenz sei, und auch in Philosophie und Wissenschaft gibt es Einwände gegen den Instrumentalismus. Körperliche Eigenschaften, der aufrechte Gang eingeschlossen, sind nicht bloß beliebige Konstruktionslösungen, sondern wirken auf unser ‹Inneres› und bestimmen mit, was und wer wir sind.
Einen ersten Hinweis darauf haben wir schon im vorangegangenen Kapitel bekommen. Die verschiedenen Gangarten der Individuen haben gesellschaftliche Wurzeln, bringen also ihre soziale Identität zum Ausdruck und wirken auf diese soziale Identität auch zurück. Wie Menschen (aufrecht) gehen, hängt aber offensichtlich nicht nur von gesellschaftlichen, sondern auch von etlichen weiteren Faktoren ab: von ihrem Geschlecht, ihrem Alter, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer momentanen Stimmung, ihrem Charakter
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