Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
oder ihrem Gesundheitszustand. Alle diese Faktoren mischen sich im konkreten Fall zu einem Kausalgefüge, von dem abhängt, wie ein Individuum geht. Unter Alltagsbedingungen nehmen wir die Körperhaltung und Fortbewegungsweise als einen Spiegel der betreffenden Person und ihrer inneren Eigenschaften; wir bilden uns aus ihnen ein Urteil über die Persönlichkeit. Illustriert wird diese Neigung durch eine hübsche Anekdote, die Franz Grillparzer in seiner Autobiographie berichtet. Im Jahre 1828 besucht er Weimar und findet sich Abends im Hause Goethe ein, wo bereits eine ziemlich große Gesellschaft auf den Dichterfürsten wartet. «Endlich öffnete sich eine Seitentüre, und er selbst trat ein. Schwarz gekleidet, den Ordensstern auf der Brust, gerader, beinahe steifer Haltung, trat er unter uns, wie ein audienzgebender Monarch.» Goethe spricht mit einzelnen seiner Gäste, darunter auch mit Grillparzer und entlässt schließlich seine Besucher. Grillparzer kehrt «mit einer höchst unangenehmen Empfindung» in sein Gasthaus zurück: «Nicht als wäre meine Eitelkeit beleidigt gewesen. Goethe hatte mich im Gegenteile freundlicher und aufmerksamer behandelt, als ich voraussetzte. Aber das Ideal meiner Jugend, den Dichter des Faust, Clavigo und Egmont, als steifen Minister zu sehen, der seinen Gästen den Tee gesegnete, ließ mich aus all meinen Himmeln herabfallen.» Kanzler Müller erklärt ihm am folgenden Tag, die «Steifheit Goethes sei nichts anderes als eigene Verlegenheit, so oft er mit einem Fremden das erste Mal zusammentreffe». Beim Mittagessen einen weite ren Tag später macht Goethe dann schon einen besseren Eindruck auf seinen österreichischen Gast. Und als beide am dritten Tag einen gemeinsamen Gartenspaziergang machen, ändert sich das Urteil: «Nun wurde mir die Ursache seiner steifen Körperhaltung gegenüber von Fremden klar. Das Alter war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Wie er so im Gärtchen hinschritt, bemerkte man wohl ein gedrücktes Vorneigen des Oberleibes mit Kopf und Nacken. Das wollte er nun vor Fremden verbergen, und daher jenes gezwungene Emporrichten, das eine unangenehme Wirkung machte. Sein Anblick in dieser natürlichen Stellung, mit einem langen Hausrock bekleidet, ein kleines Schirmkäppchen auf den weißen Haaren, hatte etwas unendlich Rührendes.» (1853: 804–8) Wir sehen hier, wie irrtumsanfällig der Schluss vom Äußeren auf das Innere ist. [28] Wer nach der Devise urteilt ‹Sage mir wie du gehst und ich sage dir wer du bist!›, geht erhebliche Risiken ein. Aber die Anekdote zeigt auch, wie unwiderstehlich die Versuchung ist, den Gang und die Haltung einer Person als Ausdruck ihrer Stimmung oder ihrer Persönlichkeit zu nehmen.
Eine solche Ausdrucksbeziehung zwischen Innen und Außen ist mit einem instrumentalistischen Verständnis möglicherweise noch vereinbar, weil dabei dem Innen eine Aktive, dem Außen eine passive Rolle zukommt. Der Zusammenhang zwischen Innen und Außen ist aber keine Einbahnstraße. Körperliche Zustände und Veränderungen können auf das Innere einwirken und können Affekte oder Stimmungen und selbst höherstufige mentale Zustände wie Selbstwahrnehmung und Selbstvertrauen des betreffenden Individuums beeinflussen. Abgesehen von Gesichtsmuskelbewegungen gilt die Körperhaltung als der paradigmatische Fall dafür. Experimentelle Studien bestätigen diesen Zusammenhang:
Versuchspersonen, die eine zusammengesunkene, depressive Sitzhaltung einnahmen, zeigten in anschließenden Tests eine größere Hilflosigkeit, als Versuchspersonen, die zuvor in einer aufrechten Haltung gesessen hatten. (Riskind et. al. 1982)
Versuchspersonen, die aufgefordert wurden, nach unten zu blicken, berichteten eine stärkere depressive Stimmung als solche, die aufgefordert wurden, nach oben oder geradeaus zu blicken. (Sugamura et. al. 2009)
In einem anderen Experiment wurden zwei Gruppen von Versuchspersonen aufgefordert, an ihre besten und schlechtesten Eigenschaften zu denken und dies schriftlich zu fixieren: eine Gruppe mit aufrechtem Rücken und vorgewölbter Brust («confident posture»), die andere vorgebeugt und mit gebogenem Rücken («doubtful posture»). Die unterschiedlichen Körperhaltungen hatten keinen Einfluss auf den Inhalt der verschriftlichten Gedanken; befragt nach ihren Aussichten auf dem Arbeitsmarkt und ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit, äußerten die Probanden aber ein deutlich größeres Selbstvertrauen, wenn sie ihre Aufzeichnungen in
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