Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Objektivierung des Klassengeschmacks darstellt, diesen vielfältig zum Ausdruck bringt: zunächst einmal in seinen scheinbar natürlichsten Momenten – seinen Dimensionen (Umfang, Größe, Gewicht, etc.) und Formen (rundlich oder vierschrötig, steif oder geschmeidig, aufrecht oder gebeugt. etc.), seinem sichtbaren Muskelbau, worin sich auf tausenderlei Art ein ganzes Verhältnis zum Körper niederschlägt … Unterschiede im Körperbau erfahren Verstärkung und symbolische Akzentuierung durch Unterschiede in der Körper haltung, im Auftreten und Verhalten: in ihnen kommt das umfassende Verhältnis zur sozialen Welt zum Ausdruck.» (1982: 307, 309) Wenn der menschliche Körper somit als ein «Klassenkörper» angesehen werden muss, wird man erwarten müssen, dass sich auch im aufrechten Gehen und Stehen die jeweilige Klassenlage des Gehenden und Stehenden niederschlägt. Nach der Analyse Bourdieus ist die soziale Lage eines Individuums die unabhängige Variable, von der der Gebrauch des Körpers abhängt und damit auch seine Morphologie. Pointiert gesagt: Die soziale Lage beugt den Körper oder richtet ihn auf. [26] Auch in diesem Sinne ist die menschliche Körperhaltung ein soziales Produkt.
Dies gilt im Übrigen auch unabhängig von sozialer Ungleichheit. Die allgemeinen Lebensbedingungen der Zivilisation haben vielfältige Auswirkungen auf den Körper, einschließlich seiner Haltung. Als ein Beispiel dafür kann das Schicksal unserer Füße gelten. Nach der üblichen Auffassung, die bis in die Lehrbücher der Anatomie hineinreicht, hat sich mit der evolutionären Aufrichtung unserer Vorfahren eine strikte Arbeitsteilung zwischen den vorderen und hinteren Gliedmaßen entwickelt. Die Feinmotorik ist eine Sache der Hände geworden, während die Füße zu bloßen Stützen herabgesunken sind und ihre vormaligen Fähigkeiten zum Greifen und Manipulieren verloren haben. Dies ist aber nur teilweise korrekt. Die bekannten Beispiele von Menschen mit Behinderung, die mit ihren Füßen zu schreiben, zu malen oder klavierzuspielen vermögen, zeigen, dass in unseren Füßen mehr Potential steckt, als in der Regel zur Entfaltung kommt. Schon die Füße der Säuglinge werden in Schuhe eingesperrt und haben niemals die Möglichkeit, die Fähigkeit zum Greifen zu entwickeln. Die morphologische Struktur unsrer Füße ist daher keine biologisch vorgegebene Tatsache, sondern zumindest teilweise auch ein Produkt der Zivilisation. (Cf. Ingold 2004) – Einen anderen Komplex von Zivilisationsfolgen haben wir bereits [Kap. 21] kennen gelernt: Die geringe körperliche Beanspruchung und die vorwiegend sitzende Lebensweise des Büromenschen führen zu degenerativen Prozessen der Rückenmuskulatur und des Skelettsystems. Haltungsschäden und Rückenschmerzen sind die Folge. Der aufrechte Gang erscheint als das problematische Erbe einer längst vergangenen Urgeschichte, das eher dysfunktional geworden ist. Das moderne Gesundheitswesen hat daher eine Vielzahl von Programmen, Strategien, Maßnahmen und Eingriffen hervorgebracht, die sich der aufrechten Haltung und des aufrechten Ganges in medizinisch-gymnastischem Sinne annehmen. Immer weniger von sich aus in der Lage, auf die richtige Weise aufrecht zu gehen, zu stehen und zu sitzen, muss der zivilisatorisch angekränkelte Mensch durch Krankengymnastik, Physiotherapie oder Rückenschulen, durch ‹Alexander-Technik› oder ‹Feldenkrais-Methode› auf den richtigen Weg des Gehens, Stehens und Sitzens gebracht werden. Hier geht es nicht um soziale Normierung; nicht um die äußere Markierung sozialer Ungleichheit (obwohl sie der tatsächliche Effekt dieser Programme sein mag). Es geht um die Korrektur eines unter zivilisatorischen Bedingungen eingeschliffenen falschen Gebrauchs der Körperhaltung und des eigenen Körpers insgesamt. Nach Feldenkrais etwa durchlaufen unsere Tätigkeiten drei Entwicklungsstufen. Am Anfang steht das ‹natürliche› Handeln; es wird später durch persönliche Eigenarten individualisiert; im dritten Stadium werden die Tätigkeiten dann reflektiert und systematisiert. Diese Stadien durchlaufen aber nicht alle Tätigkeiten gleichzeitig: «Für Teppichweben, fürs Philosophieren, für Mathematik, Geometrie, usw. wurden schon vor Tausenden von Jahren Methoden entwickelt und als solche anerkannt. Das Gehen, das Stehen und andere fundamentale Tätigkeiten gelangen erst heute in das dritte, systematische Stadium.» [27] Nicht nur die Kleinkinder müssen den aufrechten
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