Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
ersten Grund hernehmen, den Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen. Die Fläche, worauf die Länge unseres Körpers senkrecht steht, heißt in Ansehung unser horizontal; und diese Horizontalfläche giebt Anlaß zu dem Unterschiede der Gegenden, die wir durch Oben und Unten bezeichnen. Auf dieser Fläche können zwei andere senkrecht stehen und sich zugleich rechtwinklicht durchkreuzen, so daß die Länge des menschlichen Körpers in der Linie des Durchschnitts gedacht wird. Die eine dieser Verticalflächen theilt den Körper in zwei äußerlich ähnliche Hälften und giebt den Grund des Unterschieds der rechten und linken Seite ab, die andere, welche auf ihr perpendicular steht, macht, dass wir den Begriff der vorderen und hinteren Seite haben können.» (1768: 378f.) In einer Kant nicht ganz fern liegenden aktivistischen Redeweise könnte man die Grundidee so formulieren: Aufgrund seiner Körperhaltung positioniert sich der Mensch auf spezifische Weise in dem ihn umgebenden Raum; erschließt sich diesen Raum aus der damit eingenommenen Perspektive und formiert ein Bild der Welt, das von dieser Perspektive mitbestimmt ist. Kant spricht den aufrechten Gang nicht ausdrücklich an; indem er aber den menschlichen Körper als Bezugspunkt der Raumwahrnehmung einführt, bringt er dessen spezifische Struktur und Stellung zumindest implizit ins Spiel. Was vordem als objektive Eigenschaft der Welt angesehen wurde, stellt sich als Resultat einer Strukturierungsleistung des wahrnehmenden Subjekts dar. Der Raum erscheint nicht mehr als ein objektiv gegebenes Faktum, sondern als subjektiv. ‹Subjektiv› allerdings nicht im Sinne einer willkürlichen individuellen Wahl, sondern im Sinne einer durch die körperliche Konstitution des Menschen, eines objektiven Faktors also, bedingten Perspektivität der Raumwahrnehmung.
Weiter akzentuiert wurde dieser Zusammenhang von körperlicher Konstitution und Raumwahrnehmung von späteren phänomenologisch orientierten Theorien, die den in und aus den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt entstehenden und folglich durch menschliche Lebensäußerungen mitkonstituierten Raum als den «phänomenalen», «vitalen», «erlebten» oder als «Aktions»- bzw. «Bewegungs»-Raum charakterisieren und vom geometrischen Raum unterscheiden. [30] Auch dieser «phänomenale» Raum ist ‹subjektiv›, nicht weil er das Produkt intentionalen Handelns oder willkürlicher Entscheidungen wäre, sondern weil er nicht ohne die Lebensfunktionen der Subjekte zustande kommt. Er entsteht nach Maßgabe der durch die jeweilige körperliche Organisation bedingten Empfindungs-, Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten und spiegelt diese wider. Eine der zentralen Differenzen des phänomenalen Raumes gegenüber dem geometrischen Raum besteht in seiner Inhomogenität und Anisotropie: Die verschiedenen Richtungen und Orte in ihm sind qualitativ und evaluativ ungleich. Das gilt für alle Dimensionen des phänomenalen Raumes, insbesondere aber für seine vertikale Dimension. Charakteristisch für den phänomenalen Raum ist, dass ‹oben› in ihm anders ist als ‹unten› und mehr noch: besser als ‹unten›. Das Prestige, das die oberen Regionen des menschlichen Körpers im Vergleich mit den unteren besitzen, wird auf den äußeren Raum übertragen. – Besonders deutlich wird dies am sozialen Raum, der üblicherweise nicht als ein horizontales Feld, sondern als ein vertikaler Aufbau gedacht wird. Unabhängig von allen kulturellen oder epochalen Differenzen sind gesellschaftliche Verhältnisse immer hierarchische Verhältnisse. Daran hat sich auch unter den Bedingungen der modernen Demokratie nichts grundsätzlich geändert. In den Verwaltungszentralen der Banken und Versicherungen befindet sich die Vorstandsetage niemals im Keller; und bei festlichen Anlässen sitzen die Ehrengäste stets am ‹Kopf› des Tisches. Funktionale Gründe können die durchgängige Assoziation des räumlichen ‹Oben› mit sozialer Überlegenheit nicht erklären. Es deutet vielmehr alles darauf hin, dass sich diese Assoziation aus einer Analogie zum menschlichen Organismus ergibt. Zwischen der vertikalen Struktur des menschlichen Körpers und dem hierarchischen Aufbau des ‹sozialen Körpers› besteht offenbar eine wechselseitige Projektionsbeziehung. Der Parallelisierung des Kopfes mit der Akropolis als Herrschaftszentrum sind wir schon bei Platon [Kap. 4] begegnet; und bis heute sprechen wir im Alltag wie in der Wissenschaft von
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