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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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einer (alten) außereuropäischen Sprache finden: im Chinesischen. In einem ca. 300 Jahre vor unserer Zeitrechnung verfassten Text des Philosophen Zhuangzi lesen wir: «Im Zeitalter der höchsten Urtugend … lebte das Volk wie Hirsche in freier Wildbahn. Die Menschen waren aufrecht und korrekt, ohne es zu wissen, und übten damit Gerechtigkeit.» [33] Die Verbindung zwischen ‹aufrecht› und ‹gerecht› ist also nicht auf Europa beschränkt.
    Wenn der aufrechte Gang in unserer Wahrnehmung der Welt und in unserem Denken über sie präsent ist, so folgt daraus allerdings nicht, dass er das Maß aller Dinge wäre. Die Perspektive, die wir durch unsere spezifische Körperhaltung einnehmen, bildet einen Ausgangspunkt unserer epistemischen Aneignung der Welt, nicht ihren Schlusspunkt. Das zeigt sich schon im vergleichsweise einfachen Fall der Raumwahrnehmung. Dass wir den Raum und die in ihm befindlichen Dinge aus der Perspektive eines aufrecht stehenden und gehenden Wesens wahrnehmen und zur Projektion dieser Perspektive auf die Welt neigen, heißt nicht, dass wir auf diese Perspektive festgelegt wären. Könnten wir von dieser spezifischen ‹Stellung› nicht abstrahieren, würde es ein Rätsel bleiben, wie Physiker ihren Theorien die Idee eines isotropen und homogenen Raums zugrunde legen können, obwohl doch auch sie aufrecht gehen und obwohl auch sie in ihrer Alltagswahrnehmung einen qualitativ strukturierten phänomenalen Raum vor sich haben. – Von der metaphorischen Dimension unseres Sprechens und Denkens gilt Ähnliches. In der Regel sind wir uns dieser metaphorischen Dimension nicht bewusst und durchschauen nicht, dass es im sozialen Raum kein ‹oben› und ‹unten› geben kann und dass eine ‹aufrechte Gesinnung› nichts mit der Körperhaltung zu tun hat. Aber deshalb sind wir dieser Metaphorik nicht ausgeliefert und wer nicht zugeben will, dass ein Rollstuhlfahrer ein ‹aufrechter Mensch› sein kann, ist nicht Opfer einer unwiderstehlichen Macht der Metaphorik, sondern begeht einen epistemisch-moralischen Doppelfehler. Die Struktur unseres Körpers macht unserem Denken ein Angebot, zwingt ihm aber keine bestimmten Inhalte auf.

29. Von der Metaphysik zur Metaphorik
Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen; so schwer ist der aufrechte Gang.
E. Bloch
    Leicht erkennbar wird dies im historischen Rückblick. Der metaphorische Gebrauch des Topos vom aufrechten Gang hat in den vergangenen zwei Jahrtausenden einen (in mehrfacher Hinsicht) tiefen Wandel durchlaufen. Wir erinnern uns, dass die Gestalt des Menschen in der Antike als ein Zeichen für die himmlische Herkunft seiner Seele und als ein Vorzeichen für deren himmlische Zukunft angesehen wurde. Aus dieser Überzeugung ergab sich ein metaphorisch-symbolischer Komplex, der den Menschen als umgekehrten Baum und als Betrachter eines himmlischen Schauspiels, seinen Kopf als eine Akropolis ausgab. Damit war auf der deskriptiven Ebene der Platz des Menschen im Kosmos versinnbildlicht; auf der normativen Ebene zugleich das Ideal des bestmöglichen menschlichen Lebens statuiert. Der Mensch sollte sich dem Himmel als seiner eigentlichen «Wurzel» zuwenden; er sollte ihn denkend betrachten und er sollte seine höheren Seelenteile über die niederen herrschen lassen. –Diese normative Funktion erwies sich in der Folgezeit als eine Art basso continuo, der die Geschichte der Metapher grundiert. Die Übernahme des antik-heidnischen Topos durch die Kirchenväter und seine Assimilation an die christliche Religion bezeugen das. Das ‹Wesen› des Menschen wurde jetzt in seiner spannungsreichen Beziehung zu Gott gesehen: in seiner Ebenbildlichkeit und zugleich in seiner Verderbtheit durch die Sünde. Der aufrechte Gang eignete sich natürlich vor allem als Bild für die erste dieser beiden Seiten und wurde damit zu einer Aufforderung, die durch den Sündenfall verlorene innere Rechtheit wiederzugewinnen. Die gegenläufige Metapher der Verkrümmung brachte die zweite Seite des menschlichen Wesens zum Ausdruck und sollte ex negativo dieselbe normative Botschaft vermitteln.
    Als der scharfe Kontrast von Ebenbildlichkeit und Erbverderbnis im Zuge der Neuzeit weichgezeichnet wurde, verlor die Verkrümmungsmetapher ihre ideenstrategische Prominenz; die aufrechte Gestalt des Menschen wurde nun, auch innerhalb des christlichen Denkens, für andere Ideen in Anspruch genommen. Ein Beispiel dafür liefert Franz von Baader zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Um die

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