Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
ausgewachsen ist, dieser Teil auch im Weltall nach oben gerichtet.» ( Hist. anim. I,15 494a27–33) Der Mensch ist also durch seine aufrechte Haltung ein Mikrokosmos. Zweitens ist das kosmische Bezugssystem evaluativ nicht neutral. Verschiedenen Positionen im Raum kommen unterschiedliche objektive Werte zu, die auf die Wesen abfärben, die sich an diesen Positionen befinden. Der hervorgehobene Wert des Menschen unter allen anderen Naturwesen spiegelt sich in seiner hervorgehobenen körperlichen Haltung. Der Mensch ist ein wertvolles Wesen, weil er eine aufrechte Haltung besitzt; und er besitzt eine aufrechte Haltung, weil er ein wertvolles Wesen ist. Da in einem Kosmos alle Werte eine objektive Basis in der Ordnung der Welt haben, fallen in kosmologischen Theorien Ethik und Ontologie zusammen. Wir können von einem kosmologischen Wertrealismus sprechen.
Vor dem Hintergrund dieser Bestimmung erscheint die aristotelische scala naturae in einem neuen Licht. Nach dem bisher gewonnenen Bild ergibt sich die Rangordnung der verschiedenen Lebewesen aus einem direkten Vergleich zwischen ihnen: Je komplexer, wärmer, intelligenter und aufrechter ein Lebewesen ist, desto höher ist die ihm zukommende Position in der Stufenleiter. Der Mensch ist komplexer, wärmer, intelligenter und aufrechter als die übrigen Lebewesen und nimmt deshalb die Spitzenposition ein. Die zuletzt zitierte Passage lässt erkennen, dass neben dem direkten Vergleich noch ein weiterer und gewichtigerer Faktor im Spiel ist. Der Mensch nimmt seine Spitzenposition nämlich nicht nur ein, weil er aufgrund seiner einzelnen Eigenschaften den anderen Lebewesen überlegen ist; sondern weil sich in seiner aufrechten Haltung eine besondere Beziehung zum Kosmos niederschlägt. Ausschlaggebend für die Position des Menschen auf der Stufenleiter ist also nicht nur die ‹horizontale› Beziehung zwischen den verschiedenen Lebewesen, sondern die ‹vertikale› Beziehung des Menschen zum Himmel. Nur bei ihm stimmt die räumliche Struktur seines Körpers mit der räumlichen Struktur des Kosmos überein: Beide sind aufwärts gerichtet. – Es gibt eine Entsprechung zwischen dem menschlichen Körper und dem Kosmos, wobei ‹Entsprechung› nicht nur als ein passives Übereinstimmungsverhältnis, sondern als ein aktiver Verweisungszusammenhang zu deuten ist. In der aufrechten Haltung des Menschen verrät sich seine Hinordnung auf den Kosmos; genauer: auf das Vollkommene und Göttliche in ihm, das ja nach oben hin zunimmt. Von allen bekannten Lebewesen, so bekräftigt Aristoteles ( Part. anim. II,10 656a11–13), habe allein das Geschlecht der Menschen «Anteil am Göttlichen»; daher verhielten sich nur bei ihm «die naturgemäßen Teile auch naturgemäß» und sei der obere Teil «auf den oberen Teil des Alls gerichtet. Als einziges Lebewesen ist nämlich der Mensch aufrecht gehend.» Die menschliche Gestalt ist, wie er auch an anderer Stelle ( Inc. anim. 5706b11) bekräftigt, die naturgemäßeste überhaupt. Und das ist sie, weil sie der Struktur des Kosmos optimal entspricht; sie ist, wie man auch sagen könnte, die kosmischste.
6. Himmlische Schauspiele
[Die Götter] haben zunächst einmal die Menschen vom Erdboden aufgerichtet und sie aufrecht und gerade stehen lassen, damit sie beim Blick auf den Himmel zur Erkenntnis der Götter gelangen könnten.
Cicero
Dass die Welt ein vernünftig geordnetes Ganzes sei, wurde in der Antike zwar mit der Autorität eines Platon und Aristoteles vertreten, war aber keineswegs unumstritten. Es gab starke und einflussreiche Rivalen, die erst spät, unter der Hegemonie des Christentums, ausgeschaltet wurden. Dem kosmologischen Ansatz standen zum einen jene Schulen gegenüber, die an Spekulationen über die Struktur der Welt kein oder kein großes Interesse hatten, wie die Sophisten, Sokrates, die Kyniker oder die Skeptiker; und zum anderen jene Schule, die sich zwar mit dem Ganzen der Natur befassten, dieses aber gerade nicht als eine vernünftige und inhärent wertvolle Ordnung anzuerkennen bereit waren. Zu nennen ist hier die auf Leukipp und Demokrit zurückgehende atomistisch-materialistische Traditionslinie. Nach dieser Auffassung liegt der Welt kein vernünftiger Plan zugrunde, sondern eine spontane Konglomeration von Atomen, die schließlich durch kumulative Zufälle die uns bekannten Strukturen hervorbringen. An die Stelle der drei Kernthesen des kosmologischen Denkens treten hier drei Gegenthesen. Erstens ist der
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