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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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atomare Selbstorganisationsprozess zufällig und hätte auch zu anderen Resultaten führen können als es de facto der Fall war. Die Entstehung alternativer Welten kann nicht ausgeschlossen werden; sie ist sogar als sicher anzunehmen. Es gibt also nicht eine, sondern viele Welten. Wenn wir zweitens von einem Pluri versum von Welten ausgehen, von denen einige der unseren ähnlich, andere aber unähnlich sind, dann folgt, dass neben der Existenz unserer Welt auch ihre Struktur kontingent ist. Von einer vernünftigen, sinnhaften und notwendigen Ordnung der Welt kann nicht die Rede sein. Insbesondere gibt es keinen Grund mehr, eine inhärente Koppelung der Struktur der Welt an eine objektive Werthierarchie zu behaupten: Die Natur ist ethisch neutral. Und drittens: Wenn es keine vernünftige Ordnung der Welt gibt, dann kann auch dem Menschen kein besonderer Platz, keine besondere Funktion oder Aufgabe in ihr zugewiesen sein. Der Mensch ist ebenso kontingent, wie es die Welt ist.
    Gegen diese Lehre hatte schon Platon polemisiert. Dass die Welt aus «völlig unbeseelten Elementen» entstanden sei und sich alles durch eine «ihm innewohnende eigene Kraft» erhalte, dass sie mithin nicht «als ein Werk der Vernunft oder irgend eines Gottes, auch nicht der Kunst, sondern, wie gesagt, der Natur und des Zufalls» zu begreifen sei, ( Nom. X,4 889b) erschien ihm als eine theoretisch absurde Sicht der Welt. Darüber hinaus erschien ihm diese Ansicht als politisch gefährlich. Nach dem Bericht von Diogenes Laertios (IX,40) jedenfalls mochte Platon sich nicht auf die Kraft seiner Argumente verlassen, sondern versuchte diese inkriminierte Philosophie auch physisch auszumerzen, indem er die Schriften Demokrits aufkaufen und verbrennen ließ. Nachhaltiger Erfolg war dieser Bücherverbrennung allerdings nicht beschieden, denn nach Platons Tod griff Epikur zentrale Gedanken des älteren Atomismus neu auf und entwickelte sie zu einem philosophischen System, das in der hellenistischen Ära erheblichen Einfluss gewann. Die Auseinandersetzung um die kosmologische Idee wurde nun vor allem zu einer Debatte zwischen den Anhängern Epikurs auf der einen und denen der Stoa auf der anderen Seite. Die Stoa führte die kosmologische Konzeption weiter und spitzte sie in mancher Hinsicht noch zu. Zu den wichtigsten erhaltenen Zeugnissen dieser Debatte gehört Ciceros Schrift De natura deorum, in deren erstem Buch ein Anhänger Epikurs seine Ansichten vorträgt, gefolgt von der stoischen Gegenposition im zweiten Buch.
    Cicero lässt Balbus, den Vertreter der Stoa, eine seiner heftigsten Breitseiten gegen die atomistische Ordnungskonzeption abfeuern. Wenn «unser so herrlich ausgestattetes, wunderbares Weltall» aus dem regellosen Zusammenprall von Atomen entstanden sei, dann müsse aus einer Fülle zusammengewürfelter Buchstaben auch ein sinnvoller Text entstehen können. ( Nat. deor.  II,93) Dieses Argument, das noch zwei Jahrtausende später in der Auseinandersetzung um die Theorie Darwins eine wichtige Rolle spielen sollte, macht auf eine empfindliche Schwäche der damaligen atomistisch-materialistischen Position aufmerksam. Für ihre Behauptung einer Selbstorganisation der Materie konnte sie zwar die Tatsache anführen, dass die Materie organisiert ist; eine überzeugende Theorie, wie Ordnung spontan aus Unordnung entstehen könnte, hatte sie nicht. Im Vergleich dazu ist die Zurückführung von Ordnung auf einen vernünftigen Urheber und seine intentionale Planung unmittelbar einsichtig. Das ‹argument from design› beruft sich auf einen Vorgang, den wir alle gut kennen: Die Erzeugung von Ordnung durch bewusstes menschliches Handeln. Auf genau diese Analogie beruft sich auch Balbus. Wenn man eine Statue oder ein Gemälde betrachte, so könne man unmittelbar gewiss sein, dass hier planvolles künstlerisches Handeln am Werke war. Ähnliches gelte für die zielgerichtete Fahrt eines Schiffes: ohne die Annahme vielfältigen nautischen Könnens bliebe der Vorgang unerklärlich. Es sei daher vollkommen absurd, dem Weltall, das eine Vielfalt solcher Vorgänge umfasst, jegliches Planungsvermögen und jegliche Vernunft abzusprechen. – In diesem analogischen Argument klingt ein zentrales Charakteristikum aller kosmologischen Theorien an: die anthropomorphe Deutung der Genese von Ordnung. Wir haben dies schon bei Platon gesehen, der seinen Weltschöpfer als ‹Demiurg› (= Handwerker) bezeichnet. Aristoteles behauptet zwar keine personalen Eingriffe in

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