Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Komplexion. Hätte der Mensch nämlich einen gebeugten Körper, flösse das sehr dünne Blut zum Gehirn und behinderte die Lebenskräfte. Obgleich nämlich die Wärme bei einigen anderen [Sinnenwesen] stärker ist, sind jene dennoch nicht von so feiner Komplexion, dass sie aufgerichtet werden konnten.» ( De homine: 1 55) Auffällig ist hier zum einen das große Gewicht, das den natürlichen Gründen für die aufrechte Gestalt zugemessen wird; und zum anderen, dass Albert zwar ausdrücklich auf Bernhard Bezug nimmt, dann aber von der ‹rectitudo mentis› des Menschen spricht, statt ihn als ‹curvus› zu qualifizieren. Der aufrechte Körperbau des Menschen zeigt (indicare) bei Albert daher etwas anderes als er bei Bernhard gezeigt hatte. – Ähnlich bei Alberts berühmtem Schüler Thomas von Aquin, der von einer grundsätzlichen Verderbnis der Natur allgemein und der Natur des Menschen im Besonderen nichts weiß. Zwar räumt Thomas ein, dass durch die Ursünde eine «Entkräftung der Natur» eingetreten sei; eine Entkräftung ist aber keine konstitutionelle Verkrümmung. Für Thomas hat sich durch die Ursünde eine «gewisse fehlgerichtete Verfassung der Natur selbst», ein bestimmter falscher habitus (STh I/II,82,1) eingestellt, so dass sich die natürliche Hinneigung des Menschen zur Tugend «vermindert» (85,1) hat. Wohlgemerkt: «vermindert», nicht zerstört oder in ihr Gegenteil verkehrt. Durch die Sünde ändert sich nichts daran, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist (85,2), dass er also grundsätzlich imstande ist, die Welt zu erkennen, das Gesetz zu befolgen und tugendhaft zu leben.
Genau diese These war für die von Augustinus über Bernhard und Bonaventura führende theologische Gegenströmung inakzeptabel. Nur zwei Jahrhunderte später sollte sie in den Vorkämpfern der Reformation einflussreiche Bündnisgenossen finden; in diesem Kontext gewinnt der Begriff der Verkrümmung die Prominenz eines Markenzeichens. In seiner Exegese des Römerbriefs, die oft in einen engen Zusammenhang mit seiner ‹reformatorischen Wende› gerückt worden ist, greift Luther diesen Begriff auf. Durch die Ursünde sei unsere Natur in sich verkrümmt («in seipsam incurvata»). Wichtig ist ihm dabei, dass diese Verkrümmung kein bloß verkehrter Habitus sei, sondern eine tiefe Verderbnis der menschlichen Natur: «Quae Curvitas est nunc naturalis, naturale vitium et naturale malum.» (1515/16: 305, 356) Wie schon bei Bonaventura von der ursprünglichen Rechtheit des Menschen nichts mehr geblieben war, so attestiert auch Luther dem Menschen eine totale Verkrümmung, die seine Natur bis ins Mark verdorben hat. «Wer darum sagt,» heißt es an anderer Stelle, «die natürlichen Kräfte des Menschen seien nach dem Fall unversehrt geblieben, philosophiert gottlos wider die Theologie.» Der Mensch kann sich die Gnade Gottes nicht aus eigener Kraft verdienen; die Vernunft richtet ihr Sehnen nicht auf das Beste; es gibt kein freies Entscheidungsvermögen; der Mensch kann nicht zwischen Gut und Böse wählen. Grundsätzlich ist eben «was immer Mensch heißt, unter der Sünde zusammenzufassen». ( Disp. de hom., 26–30, 34) Luther macht den Begriff der Verkrümmung zu einem Markenzeichen seiner theologischen Anthropologie, in der die Sünde zum Wesen des Menschen geworden ist.
Kompromisslos durchzuhalten ist eine solch unschmeichelhafte Selbstdeutung des Menschen nur unter großer Mühe und mit hohen Kosten; sie ist daher auch nur selten kompromisslos durchgehalten worden. Dass der Mensch ein «schendlicher, fauler, stinckender madensack» (Luther 1531: 492) sei, war schon im 16. Jahrhundert eine Ansage, die nur selten unverblümt wiederholt wurde. Subkutan nachgewirkt hat sie gleichwohl. Selbst unter den Protagonisten der Aufklärung, die den diesseitigen Menschen und seine Autonomie doch stärken wollten, klingt ein Echo der lutheranischen Verkrümmung des Menschen nach, wenn Immanuel Kant die Aussichten auf ein vollkommenes politisches Gemeinwesen als gering veranschlagt und dies mit dem berühmten Diktum begründet: «aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden». (1784a: 23) Der Gedanke einer konstitutionellen Verkrümmung war ihm wichtig genug, um ihn Jahre später mit nahezu denselben Worten zu wiederholen. (1793a: 100) Auch Kant zielt nicht auf ein habituelles Merkmal einzelner Individuen, wie es bei Platon der Fall gewesen war; die Krümmung ist für ihn
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