Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
in kontemplativer Schau zu führen; doch der Mensch wandte sich «vom wahren Lichte ab und dem veränderlichen Gute zu». Wir übergehen Bonaventuras platonisierende Rekonstruktion des Falls und fassen ins Auge, wie er seine Folgen für den Menschen beschreibt: «Deshalb wurde er selbst durch die eigene Schuld verkrümmt (incurvatus) und sein ganzes Geschlecht durch die Erbsünde. Diese verunstaltete auf zweifache Weise die menschliche Natur: den Geist durch Unwissenheit und durch Begierlichkeit das Fleisch. So sitzt der Mensch erblindet und verkrümmt in Finsternis und kann das Himmelslicht nicht schauen, wenn ihm nicht die Gnade mit der Gerechtigkeit gegen die Begierde und die Wissenschaft mit der Weisheit gegen die Unwissenheit zu Hilfe kommt.» ( Itin. I,7) Hier wird noch einmal der konstitutionelle Charakter der Verkrümmung unterstrichen: Der Sündenfall führt nicht zu einem falschen Habitus, sondern verursacht eine Verderbnis der menschlichen Natur. Diese als ‹innere Verkrümmung› beschriebene Verderbnis hat nach Bonaventura zwei Komponenten. Die eine davon ist moralischer Art: Durch die Sünde ist der Mensch der Konkupiszenz überliefert, die wiederum seinen guten Willen verdirbt. Die andere Komponente ist epistemischer Art: Der Mensch hat durch den Sündenfall die Fähigkeit zur unmittelbaren Gotteserkenntnis verloren und ist infolgedessen mit Blindheit geschlagen. Diese zweite Komponente wird an anderer Stelle noch stärker betont: «Es ist gewiß, daß der Mensch, solange er stand (homo stans), die Kenntnis der geschaffenen Dinge hatte, daß er durch ihre Darstellung zu Gott getragen wurde, ihn zu loben, anzubeten und zu lieben. Denn dazu sind die Kreaturen geschaffen, und so werden sie zu Gott zurückgeführt. Aber als der Mensch fiel (cadente), als er die Erkenntnis verlor, da gab es keinen, der sie zu Gott zurückführte. Daher war dieses Buch Welt gleichsam erstorben und ausgelöscht, und es war ein anderes Buch nötig, wodurch dieses erleuchtet würde, den Sinn der Dinge zu empfangen. Das aber ist das Buch der Schrift, das die Ähnlichkeiten, die Besonderheiten und den Sinn der Dinge, die im Buche der Welt aufgeschrieben sind, aufstellt. Denn das Buch der Schrift stellt die ganze Welt wieder her, Gott zu erkennen, zu loben und zu lieben.» (Hex. XIII,12) – Diese epistemische Verderbnis des Menschen wirft noch einmal ein Schlaglicht auf die Distanz zwischen Antike und Christentum. Mit Platon, dem er den Vorzug vor allen anderen Philosophen, insbesondere vor Aristoteles, gibt, kommt Bonaventura in der Bestimmung des menschlichen Telos weitgehend überein: Es besteht in der (Wieder-)Vereinigung der menschlichen Seele mit dem Göttlichen. Für Platon wie für die gesamte antike Philosophie war aber entscheidend, dass dieses Telos aus eigener Kraftanstrengung erreichbar ist. Nichts kann den Menschen (vorausgesetzt er ist frei, begabt und männlich) daran hindern, ein philosophisches Leben nach Maßgabe der Tugenden zu führen, sich von der empirischen Welt des Werdens zu befreien und Gott ähnlich zu werden. Für den Christen Bonaventura hingegen ist der gefallene Mensch nicht mehr zu autonomer Erkenntnis und Tugend befähigt. Folglich vermag ihm auch die Philosophie nicht den Weg zu Gott zu weisen; von ihr geht, im Gegenteil, eine große Gefahr aus. Wenn überhaupt, ist sie nur in geringer Dosierung bekömmlich. In Anlehnung an eine biblische Geschichte lobt er daher diejenigen, die nur wenig von ihrem Wasser trinken: «Jene aber, die mit gebeugten Knien trinken, sind die, welche sich gänzlich dorthin bücken (incurvare), und sie werden zu den unzähligen Irrtümern gebeugt (incurvare), und dort wird der Sauerteig der Irrung gehegt.» ( Hex. XIX,13) Waren es bei Platon allein die Philosophen, die der Beugung nach unten widerstehen und sich zur Wahrheit aufrichten konnten, so sind sie jetzt zu Anstiftern der Verkrümmung geworden.
Es verdient festgehalten zu werden, dass nicht alle christlichen Theoretiker bereit waren, so weit zu gehen, wie es die augustinische Lehre und das darauf aufbauende Dogma vorschrieb. Als Albertus Magnus die von Basilius und Bernhard gestellte Frage aufgreift, warum der Mensch als einziges Lebewesen aufrecht geschaffen wurde, gibt er eine dreifache Antwort. Moralisch gesehen sei diese Körperstatur dazu da, «die Rechtheit des Geistes anzuzeigen»; final betrachtet «zur Betrachtung des Himmlischen» und natürlich betrachtet «wegen der Wärme in der vornehmsten
Weitere Kostenlose Bücher