Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
den Schweinen im Schmutz wälzt und den Kot liebt.» (SC 24,II,6; ähnlich an anderen Stellen, darunter Serm. div. 116) Vieles davon erinnert an andere Autoren und muss hier nicht erneut kommentiert werden. Auffallend ist aber die scharfe Kontrastierung von äußerer Geradheit und innerer Verkrümmung des Menschen. Bernhard verwendet also nicht nur den Ausdruck ‹rectus›, sondern zugleich auch den Gegenbegriff ‹curvus›, dem wir bisher noch nicht begegnet sind. Er sollte ein lange anhaltendes Echo finden.
Mit ‹curvus› gelingt Bernhard eine terminologische Innovation, die einen Zusammenhang zwischen der Ur- und Erbsünde des Menschen und dem Denkmotiv des aufrechten Ganges herstellte. Dieser Ausdruck charakterisiert bildhaft die Haltung des sündigen Menschen, seine innere Haltung natürlich. Er stellt genau den Ausdruck bereit, über den Basilius noch nicht verfügt hatte, als er den Menschen vor dem Fall als «hoch erhaben» angesprochen hatte, seinen Zustand danach aber nicht ausdrücklich ansprach. Bernhard hingegen ist auf Umschreibungen nicht mehr angewiesen, und bei der Lektüre seiner Predigten wird dem Leser rasch klar, dass ‹curvus› zu seinen Lieblingsbegriffen gehört: «Halte jemanden für aufrecht (rectus), wenn er sich als katholisch in seinem Glauben und als gerecht in seinem Werk erwiesen hat; wenn nicht, dann soll man ihn ohne Bedenken für krumm (curvus) ansehen.» (SC 24,III,7) – Natürlich war Bernhard nicht der Erste, der diesen Ausdruck verwandte; auch nicht der Erste, der ihn metaphorisch auf die innere Verfassung des Menschen bezog. Wir finden ähnliche Begriffe und Beschreibungen bereits bei Platon, wenn er denjenigen Menschen, die nicht nach den Maßgaben von Vernunft und Tugend leben, eine krumme Haltung und ein knechtisches Niederbeugen zur Erde zuschreibt. (Gorg. 525a; Rep. 586a) Ähnlich verwendet Seneca «incurvatus» für die Hinwendung zum Niederen, zum Sinnlichen, zum Materiellen. ( Epist. 90,13) Auch Augustinus verwendet den Ausdruck gelegentlich in genau diesem Sinne: Der Mensch, der sich zur irdischen Konkupiszenz neigt, wird dadurch verkrümmt (incurvatur quammodo), heißt es bei ihm. (En. in Ps., 15) Bei anderen christlichen Autoren, insbesondere bei Anselm von Canterbury, finden wir demgegenüber einen ausgiebigen Gebrauch des positiven Gegenbegriffs ‹rectitudo›, wenn es um abstrakte Sachverhalte wie Wahrheit oder Gerechtigkeit geht. – Bernhard führt diese Verwendung fort, wertet den Ausdruck ‹curvus› aber auf, indem er seine Bedeutung augustinisch zuspitzt. Er wird damit zu einem terminus technicus, der nicht mehr nur die spezifische Körperhaltung der vierfüßigen Tiere beschreibt; auch nicht den Habitus, die individuelle ‹Fehlhaltung› jener Individuen, die sich der Leitung durch den obersten Seelenteil entziehen und stattdessen den Geboten der Lust fügen; sondern eine durch den Sündenfall verursachte konstitutionelle innere Verderbnis des Menschen. Die menschliche Seele ist nach Bernhard groß, insofern sie aufnahmefähig für das Ewige ist; und sie ist aufrecht, insofern sie nach dem Höheren strebt. Eine Seele, die stattdessen nach dem Irdischen strebt, hört zwar nicht auf, groß zu sein; aber sie ist «nicht aufrecht sondern verkrümmt». Nach dem Verlust seiner ursprünglichen Geradheit (rectitudo) gehe der Mensch «gleichsam auf einem Fuß hinkend» durchs Leben. «Darum gilt von dem elenden verkrümmten Menschen, der auf allem Irdischen sitzt, jene klagende Stimme aus dem Psalm: ‹Elend bin ich und tiefgebeugt bis ans Ende, den ganzen Tag gehe ich traurig einher.› (Ps 77,7) In seinem Inneren erfährt er die Wahrheit jenes Spruches des Weisen: ‹Gott hat den Menschen aufrecht erschaffen, er aber hat sich in vielen Kummer verstrickt.› (Koh 7,29) Und sogleich hört er den Spottruf: ‹Beug dich nieder, daß wir über dich hinwegschreiten!› (Jes 51,23)» (SC 80,II,3–4) Vor uns entsteht das Bild einer menschlichen Natur, in der äußere Geradheit und innere Verkrümmung scharf kontrastieren.
‹Curvus› spielte nicht nur im Denken Bernhards eine wichtige Rolle, sondern wurde in den folgenden Jahrhunderten zu einer Leitmetapher überall dort, wo die desaströsen Folgen des Sündenfalls anschaulich gemacht werden sollen. Eine wichtige Station dieser Nachwirkung finden wir in Bonaventuras berühmten Pilgerbuch der Seele zu Gott. Im «Urstand», so erfahren wir hier, war der Mensch mit der Fähigkeit erschaffen, ein ruhiges Leben
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