Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
als sie ohnehin ist. Casanova hat dabei wahrscheinlich die eben zitierte Schrift De Paradiso im Auge, die damals Basilius zugeschrieben wurde, heute aber seinem Bruder Gregor von Nyssa. Er fährt fort: «Ich habe mehr Mühe mit der Vorstellung einer stehenden Schlange als mit einem allegorischen Sinn. Der gleiche Heilige sagt auch, dass die Schlangen damals sprachen; er konnte nichts anderes annehmen, sobald er glaubte, dass die Schlangen einhergingen wie wir. Stattdessen muss man wohl annehmen, dass dieses ganze Gespräch zwischen der Schlange und Eva als Bild für eine fluchwürdige Versuchung anzusehen ist, das dem Verständnis zugänglicher ist, Moses personifiziert hier die Versuchung, das Gewissen und die Vernunft. Deshalb sollte man die Heilige Schrift nicht lesen, wenn man nicht einen aufgeweckten und fügsamen Geist besitzt.» (1788: 112) Hier muss nicht entschieden werden, wer Recht hatte. Es verdient aber festgehalten zu werden, dass die Bibel das Kriechen der Schlange als Strafe für ihr Verführungswerk ausweist; und dass sie damit voraussetzt, dass diese Fortbewegungsart inhärent schlecht ist, zumindest schlechter als die aufrechte. Nur deshalb kann sie ja als Strafe verhängt werden. –Daraus ergibt sich die Frage, warum die Menschen dieser Strafe entgangen sind. Verdient hätten sie es sicher gehabt, fortan bäuchlings auf dem Boden zu kriechen! Warum also hat Gott ein Auge zugedrückt, den gefallenen Menschen das Schicksal der Schlange erspart und ihnen die aufrechte Haltung belassen?
12. Wegweiser zur Erlösung
Hüte dich, o Mensch, nach Art der Tiere dich (zur Erde) zu beugen! Hüte dich, nicht so sehr dem Leibe denn der Begierde nach zum Bauche dich zu erniedrigen! Denk an deines Leibes Gestalt und nimm dementsprechend auch geistig die Richtung nach der Höhe!
Ambrosius von Mailand
Eine Antwort auf diese Frage lässt sich aus den Überlegungen gewinnen, die wir bei Bernhard von Clairvaux kennengelernt haben. Demnach hat Gott den Menschen aufrecht geschaffen, damit dessen Geist und Seele sich ein Vorbild an der äußeren Geradheit seines Körpers nehmen und dem Himmlischen zuwenden können. Vielleicht, so kann man diesen Gedanken weiterführen, hat Gott dem Menschen aus eben diesem Grunde die aufrechte Haltung belassen. Die grundstürzende Bedeutung des Sündenfalls besteht ja in dem Abfall des Menschen von Gott und in der sich daraus ergebenden Notwendigkeit einer Rückwendung zu Gott. Der gefallene Mensch bedarf eines Mahn- und Orientierungszeichens; die aufrechte Haltung ist eins. Es wäre dann also ein Ausdruck göttlichen Wohlwollens, dass der Mensch aufrecht bleiben durfte. Seine postlapsarische Körperhaltung lässt erkennen, dass ihm eine zweite Chance eingeräumt wurde. An der Schlange lag Gott demgegenüber nichts und so wurde sie verdammt, auf dem Bauche zu kriechen und Staub zu fressen.
Neu war die Idee einer solchen Orientierungsfunktion nicht. Schon in der antiken Philosophie war der aufrechten Haltung eine appellative und präskriptive Bedeutung zugewiesen worden. Sie war ein Bindeglied zwischen Kosmologie und Ethik: ein Zeichen für die dem Menschen aufgrund seiner kosmischen Funktion gegebene Ausrichtung nach ‹oben› bei gleichzeitiger Distanzierung von allem, was ‹unten› ist; vor allem von den ‹niederen› sinnlichen Lüsten. Die aufrechte Haltung wurde so zu einem Mahnmal gegen den Hedonismus. – Die Anhänger biblisch fundierter Weltanschauungen konnten hier nahtlos anknüpfen. Musste der Mythos vom Sündenfall nicht als ein Lehrstück über die Folgen des Hedonismus gedeutet werden? Sind nicht Adam und Eva von Gott abgefallen, weil und indem sie sich in Gestalt des verbotenen Apfels niederen irdischen Gütern und Genüssen zugewandt haben? Oder weil sie vielleicht sogar der fleischlichen Liebe frönten? Genau das behauptete Philo. Da die Schlange für ihn eine Allegorie der Wollust ist, kann sie zugleich als Sinnbild für den Hedonisten fungieren, «denn wie von einer Last niedergedrückt, erhebt er nur mit Mühe das Haupt, da die ungezügelte Lust ihn zu Falle bringt und zu Boden wirft; er geniesst nicht himmlische Nahrung, wie sie die Weisheit mit den Lehren und Grundsätzen den Schaulustigen bietet, sondern nur die Nahrung, die in den regelmässigen Jahreszeiten aus der Erde hervorwächst; aus dieser entstehen Trunksucht, Gefräßigkeit und Schlemmerei, die die Begierden des Leibes erregen und aufrühren und auch die heftigen Gelüste des Unterleibes
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