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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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intelligent und daher leichter zu verführen war als Adam; genau aus diesem Grund hatte sich die Schlange bei ihrem Verführungswerk nicht an Adam, sondern an sie gewandt. Doch so unterbelichtet mochten sie sich Eva nicht vorstellen, dass sie es nicht für erklärungsbedürftig gehalten hätten, dass Eva den Anschlag des Teufels nicht zu durchschauen vermocht habe. [22] Einige haben daher angenommen, die Schlange sei schön gewesen und habe einen menschlichen Kopf gehabt. Letzteres lag schon deshalb nahe, weil sie ja mit Eva spricht; ein menschliches Haupt bietet bessere Voraussetzungen für eine Unterhaltung als der übliche Schlangenkopf. Die Theologen haben natürlich an einen weiblichen Kopf gedacht, dabei aber übersehen, dass ‹Schlange› im Hebräischen männlichen Geschlechts ist. Wichtiger ist eine andere Annahme, die Evas Vertrauensseligkeit plausibel machen sollte. Sie besteht darin, dass die Schlange aufrecht gegangen sei! Wir treffen auf diese Annahme in der jüdischen Exegese: Die Schlange stand aufrecht wie ein Schilfrohr und hatte Füße. (Midrash Rabbah XIX,1; XX,5) Dies schloss man aber nicht nur, weil das windungsreiche Kriechen unweigerlich Evas Misstrauen hätte wecken müssen, sondern noch aus einem weiteren Grund, der dem Bibeltext leicht entnommen werden kann. Nachdem zunächst Eva, dann Adam vom Baum der Erkenntnis genascht hatten, gab es das zu erwartende Donnerwetter von höchster Stelle. Dabei knöpft sich Gott zuerst die Schlange vor: «Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens.» (Gen 3,14–9) Wie aber hätte Gott der Schlange befehlen können, auf dem Bauch zu kriechen und Staub zu fressen, wenn sie eben dies schon von jeher getan hatte? So die Frage der Exegeten. Und ihre Antwort liegt auf der Hand: Der göttliche Fluch war nur sinnvoll und möglich, wenn die Schlange vorher nicht auf dem Bauch gekrochen, sondern aufrecht gegangen war. Nach Flavius Josephus wurden ihr die Füße daher zur Strafe genommen ( Jüd. Altertümer  I,50) und im Midrash Rabbah (XX,5) steigen die Engel nach dem Fluch vom Himmel herab und schneiden der Schlange Hände und Füße ab, sodass ihre Schreie von einem Ende der Welt zum anderen widerhallen.

    Abb. 4: Adam und Eva mit aufrecht stehender Schlange. Hugo von der Goes, Der Sündenfall (1477)
    Denselben zoologisch unorthodoxen Deutungsweg haben auch christliche Exegeten eingeschlagen. So erklärt Gregor von Nyssa, die Schlange sei damals nicht furchterregend gewesen, sondern freundlich und milde. Und vor allem: Sie sei nicht auf dem Boden gekrochen, sondern aufrecht auf ihren Füßen gegangen. (De parad.: 79f.) Dieser Ansicht schloss sich später Martin Luther in seinen Genesisvorlesungen an. Vor dem Sündenfall sei die Schlange sehr schön, menschenfreundlich und aufrecht gewesen. Letzteres dürfe aber nicht so verstanden werden, dass sie wie ein Mensch aufrecht gegangen sei, sondern wie ein Hirsch oder ein Pfau. (1544: 139, 140) Auch bei anderer Gelegenheit weist Luther mehrfach darauf hin, dass die Schlange ihre Füße erst nach dem Sündenfall verlor, sodass sie fortan auf dem Boden kriechen musste. Im Übrigen ist sie natürlich gekrümmt und niemals gerade, wie ja auch der Teufel niemals gerade ist. ( Tischreden: 4309; 5859; 4890; 1146) – Wie verbreitet diese Ansicht auch über die Theologie hinaus war, lässt sich daran erkennen, dass wir aufrecht stehenden Schlangen auch in der Malerei und Dichtung begegnen. Bis in die frühe Neuzeit hinein finden sich bildliche Darstellungen des Sündenfalls, in denen die Schlange aufrecht steht. [23] Auch in Miltons Verlorenem Paradies nähert sich der Teufel Eva zwar in Schlangengestalt, aber noch keineswegs auf dem Boden kriechend:
«Er kam heran, nicht, wie seitdem die Schlange,
Am Boden kriechend, sondern aufgetürmt
Zu steigendem Gewinde Ring auf Ringe;
Das Haupt, gekammt und mit Karfunkelaugen,
Erhob auf grünlich goldnem Halse sich
Hoch auf des Schweifes schimmerndem Geringel,
Das üppig auf den Rasen flutete.» (IX, 496–502)
    Unwidersprochen geblieben ist die reizvolle Idee einer aufrecht gehenden Schlange allerdings nicht; manchem Exegeten erschien sie als unwahrscheinlich. Zu den Skeptikern in diesem Punkt gehört neben Calvin ( Genesis: 56) auch Casanova, der an den heiligen Basilius die Frage richtet, ob ein Kommentar dazu da sei, eine Aussage noch dunkler zu machen

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