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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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ein Merkmal der menschlichen Natur.

11. Das Schicksal der Schlange (Exkurs)
Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens.
Genesis 3,14
    So weit es sich um den Sündenfall und seine Folgen handelte, haben die Exegeten dem ersten Menschenpaar stets ihre Hauptaufmerksamkeit geschenkt; es war ja seine Verfehlung, die über uns nachfolgende Menschen gekommen ist und uns verkrümmt hat. Beteiligt war aber auch die Schlange; und da ihr Beitrag zu dem unguten Vorgang einigermaßen prominent war, konnte sie der exegetischen Aufmerksamkeit nicht völlig entschlüpfen. Viele Haltepunkte im Bibeltext hatte diese Aufmerksamkeit allerdings nicht, denn die Charakterisierung der Schlange ist höchst spärlich: Wir erfahren lediglich, dass sie «listiger» bzw. «schlauer» als die übrigen Tiere war. Damit haben sich die Interpreten nicht zufriedengegeben und in dem listigen Tier entweder eine Allegorie der Sinnlichkeit oder die Verkörperung des Teufels sehen wollen.
    Philo von Alexandria vertritt die erste Deutung. Die Schlange ist für ihn ein Sinnbild der Wollust, vor allem «weil sie ein Tier ohne Füsse ist und vornüber gebeugt auf dem Bauche kriecht». (Opif. § 157) Den Zusammenhang, den Philo hier zwischen der Körperhaltung der Schlange und ihrem ‹Charakter› als Repräsentation der Wollust herstellt, kennen wir aus Platons Timaios. Die Fußlosigkeit, die Gebeugtheit und das Kriechen auf dem Bauche waren hier als Folgen einer degenerativen Entwicklung identifiziert worden, die ihre Ursache in der Orientierung einzelner Menschen am Materiellen, am Sinnlichen, an der Lust hat. Insofern ist die Körperhaltung und Fortbewegungsart der Schlange nicht zufällig, sondern ihrem ‹Charakter› angemessen. Sie muss auf dem Boden kriechen, wenn sie das ist, wofür Philo sie ausgibt. – Weniger offensichtlich ist die Angemessenheit der gebückten Körperhaltung und kriechenden Fortbewegungsart, wenn man in der Schlange eine Verkleidung oder ein Werkzeug des Teufels sieht. Dass man aber auch hier einen Zusammenhang herstellen kann, zeigt Augustinus im vierzehnten Buch von De civitate Dei. Er schildert, wie gut es dem Menschen «sowohl leiblich als auch geistlich» im Paradiese ging, bis der Teufel sich in den Sinn des Menschen einzuschleichen vermochte. Als Grund für dieses arglistige Bemühen erinnert Augustinus daran, dass wir es beim Teufel mit einem hochmütigen und neidischen Engel zu tun haben, der sich von Gott ab- und zu sich selbst hingewandt hatte, da er sich lieber an Untertanen freuen als selbst Untertan sein wollte und deshalb aus dem geistlichen Paradies herabgefallen war. Das der Verführung zugrunde liegende Motiv war also zum einen Hochmut: Der Teufel wollte sein wie Gott. Zum anderen aber war es Neid auf den Menschen, «dem er mißgönnte, daß er noch stand, während er selbst gefallen war (cui utique stanti, quoniam ipse ceciderat, invidebat)». (XIV,11) Es ist nicht ganz klar, wie ernst es Augustinus mit dieser Deutung der teuflischen Pläne war; in seinen anderen Genesis-Kommentaren findet sie sich in dieser Form nicht. Gewiss aber ist sie nicht nur das Produkt eines bloßen Einfalls. Wir sind ähnlichen metaphorischen Verwendungen von ‹stehen› und ‹fallen› bereits begegnet, die auf einer Assoziation von Körperhaltung und innerer Verfasstheit beruhen. Zugrunde liegt dem natürlich die Vorstellung, dass ‹oben› gut und ‹unten› schlecht ist. Augustinus macht hier keine Ausnahme, denn ‹stehen› ist auch bei ihm positiv und ‹fallen› negativ konnotiert. [21] Er weist dem ‹Stehen› einen so hohen Wert zu, dass es den Neid des Teufels wecken und ihn zu einem Anschlag auf die Stehenden motivieren musste. Und wenn er sich dabei der Schlange als Werkzeug bediente, so macht diese Wahl einmal mehr die evaluative Bedeutung von räumlicher Position und Fortbewegungsweise deutlich. Denn die Schlange ist, wie Augustinus hervorhebt, «ein glattes, in krummen Windungen sich fortbewegendes, zu seinem Vorhaben passendes Geschöpf». In ihren krummen Windungen ist die Verkrümmung vorweggenommen, die die Menschen erleiden, wenn sie der Verführung nachgeben.
    Diese Deutung erzeugt jedoch ein Problem. Wenn Augustinus recht darin hat, dass die kriechende, windungsreiche Fortbewegungsart ein sicheres Zeichen der Heimtücke sei, dann wird man fragen müssen, warum Eva diese Tücke nicht sofort durchschaute. Zwar sind sich viele Exegeten darin einig, dass Eva weniger

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