Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
geeignete Weise auszugleichen, ist daher technisch hochgradig anspruchsvoll. Beträchtliche Teile der für die Entwicklung humanoider Roboter eingesetzten Ressourcen werden für die Lösung dieser Probleme in Anspruch genommen. – Von größerem Gewicht sind für uns aber die anthropologischen Implikationen dieses Befundes. Denn natürlich wirft er ein unerwartetes Licht auf den aufrechten Gang des Menschen. Auch der Mensch ist ein hoher Körper mit kleiner Standfläche und folglich einer konstitutionellen Sturzgefahr ausgesetzt. Was im Alltag gesunder erwachsener Menschen als eine Selbstverständlichkeit genommen wird, erweist sich vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Gangforschung als eine Art Wunder: «Wenn man die gewaltige Komplexität des Gehens und Rennens beim Menschen untersucht, so ist man überrascht, daß beinahe jeder es kann, und das in frühen Jahren.» (Dagg 1977: 29) Wie wir weiter unten [Kap. 23] noch sehen werden, fügen sich die hier angesprochenen ‹technischen› Schwierigkeiten in einen größeren Deutungskontext ein, der sich grundsätzlich vom klassischen unterscheidet.
Die intrikaten Stabilitätsprobleme bilden aber nur die eine Seite der Einsichten, die wir aus der mechanischen Analyse des aufrechten Ganges gewinnen können. Auf der anderen Seite erkennen wir auch, dass er sich als ein nach kausalen Gesetzen funktionierender Vorgang nicht grundsätzlich von anderen kausalen Abläufen unterscheidet, auch nicht von der Fortbewegungsweise der Tiere. Zwar ist das ‹Stabilitätsgebiet› beim vierbeinigen Gang deutlich größer und die Sturzgefahr entsprechend geringer; die zugrunde liegenden mechanischen Gesetze sind jedoch gleich. Dasselbe gilt natürlich auch für Maschinen: Die erfolgreiche Konstruktion humanoider Roboter zeigt, dass der Mechanismus des aufrechten Gangs eben auch von Maschinen realisiert werden kann. In der seit dem 17. Jahrhundert nicht nur bei Descartes endemischen Rede vom belebten Körper als einer Maschine, ist die mechanische Gleichartigkeit von Mensch, Tier und Maschine immer implizit gewesen. Doch kaum jemand hat diese Gleichartigkeit mit einer so unverblümten Lust an der Provokation hervorgehoben wie Julien Offray de La Mettrie. In seinem berüchtigten L’ homme machine höhnt er, «daß jene stolzen und eitlen Wesen, die sich mehr durch ihren Hochmut als durch die Bezeichnung Mensch auszeichnen, im Grunde – wie sehr sie sich auch erheben möchten – nur Tiere und aufrecht kriechende Maschinen sind.» (1748: 125) Man mag diesen Hohn abgeschmackt finden; man wird aber nur schwer bestreiten können, dass diese Formulierung eine Tendenz der ‹Entzauberung› zum Ausdruck bringt, die der wissenschaftlichen Analyse des Menschen und seines aufrechten Ganges immanent ist. Was Tiere und Maschinen genauso oder zumindest auf ähnliche Weise können, taugt nicht länger als Beweis für die privilegierte Stellung des Menschen. Auf die Debatten über die Mensch-Tier-Relation wird im folgenden Kapitel näher einzugehen sein. Hier ist nur festzuhalten, dass der aufrechte Gang in einer konstruktiven Perspektive nur als eine mögliche Lösung des Bewegungsproblems neben mehreren anderen erscheinen kann. Man beachte die Selbstverständlichkeit, mit der die Brüder Weber von der Möglichkeit «einer z.B. durch Dampf bewegten, auf zwei, vier, sechs oder mehreren Beinen gehenden Maschine» gesprochen hatten, um dessen gewahr zu werden. Die mechanischen Gesetze, nach denen sie funktionieren, sind immer dieselben.
17. Die quadrupedische Bedrohung
[Der Mensch] ist daher ein Quadrupede, hat ein Maul wie die anderen Quadrupeden und schließlich vier Füße: auf zweien von ihnen geht er und er gebraucht die beiden anderen für Zwecke des Greifens.
C. von Linné
Das Zerbröseln alter Gewissheiten führte bei einigen frühneuzeitlichen Theoretikern zu dem Bedürfnis, reinen Tisch und einen neuen Anfang zu machen. Francis Bacons Idolenlehre und Descartes’ methodischer Zweifel sind die bekanntesten Varianten dieses Willens zum epistemischen Neustart. Weniger bekannt ist eine im Jahre 1646 unter dem Titel Pseudodoxia Epidemica publizierte Untersuchung populärer Irrtümer, die ihr Verfasser mit der These einleitet, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht aus der (Wieder)erinnerung hervorgehe, wie Platon behauptet hatte, sondern aus dem Vergessen. Ein Korpus neuer und gesicherter Wahrheiten könne nur aufgebaut werden, wenn zuvor die obsoleten Teile unseres Wissens
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