Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Grenzen der Forschung schließen die Gewinnung weiterer Einsichten und eine zunehmende Schärfung des historischen Bildes nicht aus. So wird in der jüngeren Forschung zunehmend betont, dass wir es beim ‹aufrechten Gang› nicht mit einem kompakten Merkmal, sondern eher mit einem komplexen Merkmalsbündel zu tun haben, das beispielsweise die Senkrechtstellung der Körperachse, das Balancieren auf kleiner Grundfläche, das zweibeinige Gehen, Rennen, Springen etc. umfasst. Obwohl zwischen diesen Teilmerkmalen offensichtliche strukturelle Verbindungen bestehen, könnte es sich doch um separate Adaptationen handeln, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen (vormenschlichen) Arten unterschiedlich stark ausgeprägt haben. Wenn dies zutrifft, muss die bis in die jüngste Vergangenheit dominante Vorstellung einer linearen Entwicklung von der vierfüßigen zur zweifüßigen Haltung aufgegeben werden: die Vorstellung also, nach der die Aufrichtung ein zwar langwieriges aber einheitliches Geschehen war, aus dem sich über mehrere Stufen die aktuelle Körperhaltung und -struktur des Menschen entwickelt hat. Zu rechnen ist nun mit der Möglichkeit, dass einzelne dieser Teilmerkmale unabhängig voneinander, zu verschiedenen Zeiten, bei verschiedenen (vormenschlichen) Arten, vielleicht auch mehrfach und in verschiedenen Ausprägungen entstanden sind. Was uns aus der riesigen historischen Distanz und vom Ergebnis her betrachtet als die Aufrichtung erscheint, wäre dann in Wahrheit eine patchworkartige Abfolge lokaler Anpassungen, die auch zu einem anderen Resultat hätte führen können. – Sollte sich dieses Bild bestätigen, könnte der aufrechte Gang kaum noch als Privileg des Menschen angeführt werden. Zwar gehen heute allein die Angehörigen der Art Homo sapiens aufrecht (wenn wir vom Pinguin großzügig absehen); doch es haben wohl auch andere, inzwischen ausgestorbene Arten zumindest Teilmerkmale dieses angeblichen Privilegs erworben. Dies waren aber keine Menschen; einige von ihnen gehörten nicht einmal zu den vor-menschlichen Wesen, zu denen also, aus denen sich später Menschen entwickelt haben. Anders ausgedrückt: Wahrscheinlich haben sich vormals die Angehörigen verschiedener Arten mehr oder weniger aufzurichten begonnen und nur ‹wir› sind davon übriggeblieben (warum auch immer). Es ist nicht schwer zu erkennen, dass damit die Kontingenzschraube noch eine Umdrehung fester zugezogen wird. Die Evolution stellt sich als eine lange Sequenz von Experimenten dar, von denen die meisten gescheitert sind. Die Natur folgt keinem übergreifenden Plan, sondern reagiert mit ‹trial and error› auf lokale Zwänge und Opportunitäten. Auch mit dem aufrechten Gang hat sie es, wenn diese finalistische Redeweise erlaubt ist, mehrmals versuchen müssen, [36] bevor es beim Homo sapiens endlich einmal geklappt hat. So bedeutsam die Aufrichtung auch war, so wenig bot sie eine Garantie zu einer Entwicklung des Gehirns und der Intelligenz; viele Arten, die den ersten Schritt getan hatten, sind nicht über ihn hinausgekommen, sondern ausgestorben.
Hans Magnus Enzensberger
Der Störfall
O Deus sive natura, Evolution,
damit hast du wohl nicht gerechnet.
Ja, das kann jedem passieren.
Wenn man derart mächtig ist –
Irgendein Zufall, und schon
erhebt so eine Kreatur sich
auf zwei Beine, fängt an zu reden,
schlimmer noch – denkt!
Natürlich, am Anfang,
da wird man noch angefleht,
Rauch steigt auf von den Altären,
aber kaum haben sie einigermaßen
zu essen, werden sie übermütig.
Hans Peter Grauke aus Fulda,
um nur ein Beispiel zu nennen,
der vor der Disco lauert
mit seinem neuen Jagdmesser,
untherapierbar, oder Höllreuther,
Virologe und Welterlöser:
Milliarden von Ich-Sagern.
Wahnsinn, was denen einfällt.
Alles bringen sie durcheinander.
Und dabei hattest du, liebe Evolution,
alles so wunderbar eingerichtet.
Aus: H. M. Enzensberger, Die Geschichte der Wolken.
Suhrkamp 2003, S. 55f.
Das alles wäre ja noch zu verschmerzen, wenn das Ergebnis zufriedenstellend ausgefallen wäre: wenn der aufrechte Gang jene glanzvolle Errungenschaft wäre, für die er jahrhundertelang ausgegeben wurde. Doch auch in diesem Punkt lässt die Evolutionstheorie keinen Raum für Illusionen. Sie offenbart uns nicht nur das unsystematische Bastelverfahren, mit dem ‹die Natur› zu Werke geht, sondern zeigt auch, wie dieses Verfahren sich in ihren Produkten niederschlägt. Bereits Lamarck und Darwin hatten
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