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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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auf die umfangreichen Umbaumaßnahmen am menschlichen Körper hingewiesen, die notwendig geworden waren, als die vierfüßigen Vormenschen den aufrechten Gang annahmen: «Das Becken musste breiter, das Rückgrat eigentümlich gebogen und der Kopf in einer veränderten Stellung befestigt werden». (Darwin 1871: 61) Dieser lapidare Satz verschweigt mehr als er enthüllt. Er lässt nämlich nicht erkennen, wie tiefgreifend der erforderliche Umbau war. Ein späterer Autor hat ihn mit folgenden markigen Worten beschrieben: Der aufrechte Gang wirkt «mit Erstaunen erregender Gewalt umbildend auf alle Körperteile ein, welche dem nach unten zunehmenden Belastungsdrucke ganz direkt ausgesetzt sind. Kein Organ bleibt verschont.» [37] Gemeint ist hier aber zunächst nur der Umfang der ‹konstruktiven› Veränderungen der menschlichen Anatomie, noch nicht aber ihre ‹destruktiven› Nebeneffekte. Tatsächlich hatte ein so tiefgreifender Umbau eine Fülle von nicht-adaptiven Folgen, die den berüchtigten Kollateralschäden nicht unähnlich sind. Der wohl erste Text, in dem auf solche indirekten Folgen systematisch aufmerksam gemacht wird, stammt von dem US-amerikanischen Psychiater Shobal Vail Clevenger, der 1884 einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel «Disadvantages of the Upright Position» veröffentlichte. Als ein engagierter Darwinist wendet sich Clevenger gegen teleologische Erklärungen und insistiert darauf, dass der menschliche Körper ein Mechanismus «und nichts anderes» (1884: 7) sei. Gegenwärtig fahre die Welt in ihrer Blindheit noch fort, die schlimmen Konsequenzen scheinbarer Vorteile zu ignorieren; sie brüste sich mit dem aufrechten Gang und seinen Vorzügen, wolle aber von seinen Nachteilen nichts wissen. Diese bestehen in Krankheiten, von denen vierfüßige Tiere nicht oder zumindest weniger betroffen sind. Venenerkrankungen sind ein erstes Beispiel dafür. Dass die Rückenvenen Klappen haben, die Schädel-, Bauch- und Schwanzvenen jedoch nicht, ergibt sich nach Clevenger aus unserem evolutionären Erbe: Bei Quadrupeden wären Klappen in den Hämorrhoidalvenen sinnlos gewesen. Nach der Aufrichtung des Menschen aber macht sich ihr Fehlen schmerzhaft bemerkbar. Viele mussten deswegen ihr Leben lassen, «um nichts über die Unbequemlichkeit und den Schmerz zu sagen, der von den Überfüllungen verursacht wird, die als Hämorrhoiden bekannt sind und die von Klappen in diese Venen verhindert würden». Zweitens nennt Clevenger die größere Anfälligkeit für Leistenbrüche. Das Gewicht der Eingeweide werde bei Quadrupeden von den Rippen und von starken Brust- und Bauchmuskeln aufgefangen. Bei Menschen sei das nicht der Fall, sodass Bruchbänder aushelfen müssten. Clevenger zitiert Schätzungen, nach denen zwanzig Prozent aller Menschen von diesem oft tödlichen Leiden betroffen sind. In einer evolutionären Perspektive sei immerhin zu hoffen, dass die Brüche aufgrund von natürlicher und sexueller Selektion mit der Zeit zurückgehen werden. Drittens schließlich wird der Uterus durch die aufrechte Stellung in eine ungünstige Lage gebracht, aus der sich Leiden und Komplikationen bei der Geburt ergeben. «Wenn wir überzeugt sein müssen, daß die Schmerzen und Qualen bei der Geburt wegen unserer Ursünde vermehrt wurden und auch überzeugt sind, daß die übermäßige Kontraktion des Beckenraumes eine Wirkursache für dieselben Geburtsschwierigkeiten sind, dann ist die logische Schlußfolgerung unvermeidlich, daß die Ursünde des Menschen darin bestand, sich auf seine Hinterfüße zu stellen.» (1884: 7)
    Sieht man von dem letzten, offensichtlich religionskritisch gemeinten Seitenhieb ab, so haben wir in der Gestalt Clevengers einen Moscati redivivus vor uns. Die meisten Unbilden, die der amerikanische Psychiater beschreibt, hatte uns ein Jahrhundert zuvor schon der italienische Anatom pathetisch vor Augen geführt. Mit dem nicht ganz unbedeutenden Unterschied allerdings, dass einiges von dem, was dieser als Tatsache diagnostiziert hatte, von Clevenger nicht nur bestätigt, sondern in evolutionstheoretischen Termini erklärt wird. Die Vorfahren des Menschen waren irgendwann einmal vierfüßige Säugetiere, die nach dem allgemeinen Säugetier-Bauplan konstruiert waren; als diese Vorfahren sich aufrichteten, konnte dieser Bauplan nicht einfach ad acta gelegt und durch einen neuen ersetzt, sondern musste Schritt um Schritt umgebaut werden. Dadurch wurden konstruktive Kompromisse nötig, die

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