Der Aufstand Der Ungenießbaren
mittelgroßes, noch ein großes, keine Rede davon. Ich sage dir, das Einzige, was ich wollte, war meine Familie zu beschützen – er sah Vida durchdringend an –, in meinem Land, in meinem Haus.
Egal, du warst auf der falschen Seite.
Was heißt das schon? Es gibt keine richtige und keine falsche Seite. Jeder glaubt, dass seine die richtige Seite ist.
Ich meine nicht, dass wir uns vergleichen können, sagte Vida leise. Ich hatte einen guten Freund, er hieß Robert. Wir haben ihn verwundet zurückgelassen, nicht einmal eine Stunde zu Fuß von hier entfernt. Das war während der Operation Sturm. Als die Sanitäter kamen, um ihn abzuholen, fanden sie ihn abgschlachtet und verstümmelt, ohne Nase und ohne Ohren. Das haben deine Leute getan.
Joki ć hüstelte kurz.
Mein jüngerer Bruder Simo, begann er, ist am Anfang des Krieges mit drei Kameraden zum Heiligen Berg auf einen Erkundungszug gegangen. An dem Tag geschah gar nichts, es wurde keine Aktion vorbereitet, sie sind nur zur Erkundung losgezogen, weil irgend so ein Klugscheißer in einem Militärhandbuch gelesen hatte, dass man im Krieg auf Erkundung gehen muss. Und dann gingen sie in die Falle. Die drei anderen konnten sich retten, mein Bruder nicht. Seine Leiche habe ich einige Monate später bei einem Austausch zurückbekommen. Seine Augen waren ausgestochen, und an jeder Hand fehlten drei Finger. Jeder von uns – er blickte Vida an – hat in diesem Krieg jemanden oder etwas verloren, und aus den Körperteilen, die deine Leute meinen Leuten und meine Leute deinen Leuten abgeschnitten haben, könnte man so viele Menschen zusammenschrauben, um damit eine ganze Kleinstadt zu bevölkern. Deshalb erzähl mir nichts, Freundchen.
Nenn mich nicht Freundchen, Vida stand auf und beugte sich bedrohlich über Joki ć .
Dieser stand, ohne sich zu beeilen, auf, und fragte:
Was willst du jetzt tun? Soll ich darauf warten, dass du deinen Schlagbolzen wieder einbaust und mich erledigst.
Ich kann dich auch ohne Pistole fertigmachen.
Das wird kaum gehen, Freundchen, du kannst doch kaum auf deinem Fuß stehen. Und ich würde mich mit dir auch dann nicht schlagen, wenn dein Fuß gesund wäre.
Er drehte sich um und ging zu der Hütte.
Weißt du was, er blieb kurz stehen, dort in Bosnien habe ich begriffen, dass all das nicht existiert, die richtige Seite, die falsche Seite, meine Leute, deine Leute, unsere Leute, eure Leute, wir, sie, die Orthodoxen, die Katholiken, die Kroaten, die Serben, all das sind Worte, nur leere Worte, mit denen man uns erschrecken und verrückt machen will – und wir schlucken das alles. Aber ich will das nicht mehr. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass wir beide eine Million gute Gründe dafür haben, friedlich nebeneinander zu leben, und nicht einen Grund dafür, uns gegenseitig abzumurksen. Alles andere ist Scheiße. Und wenn wir schon bei Scheiße sind, sag mir bitte, welchen Unterschied es macht, in die Haut eines Serben, eines Kroaten oder eines Italieners eingeschlossen zu sein – oder in eine Einzelzelle im Knast? Gar keinen. Also, wenn du gerne einen Kaffee möchtest und dich noch etwas unterhalten willst, komm wieder, wenn du dich beruhigt hast.
Zehntes Kapitel
Das Urteil über Fraktalfrau – Der Säufer Everett – Gärtner irrt sich – Der Kirchenindex, die Strategie zur Tötung von Gehirnwindungen – Was gut verkauft wird, ist gesund – Kurze Geschichte der Ungenießbaren – Die Mauer
Fraktalfrau ist allmächtig. In ein und demselben Augenblick kann sie an zwei verschiedenen Orten sein und zwei verschiedene Dinge tun. Als Beweis besitzt sie sogar ein schriftlich festgehaltenes Dokument vom Amtsgericht Zagreb, das über die achtzehnjährige Studentin der Anglistik und Indologie, die gegen den Mauerbau um Zagreb herum protestierte, folgendes Urteil fällte:
Sie ist schuldig
am heutigen Tag, dem 15. Juli 2010, auf der Kreuzung der Straßen Donje Svetice und Kneza Branimira in Zagreb die öffentliche Ordung und den Frieden gestört zu haben, und zwar indem sie sich an diesem Ort und zu dieser Zeit einer offiziellen Polizeiaktion zur Unterstützung der zuständigen Behörde, dem städtischen Büro für räumliche Gestaltung, Städtebau, Bauwesen, kommunale Infrastruktur und Verkehr, physisch entgegengestellt hat, den Verkehr und die Durchfahrt für Lastkraftwagen und Baumaschinen, Fußgänger sowie Dienstfahrzeuge der Polizei, die auf dem Weg zur Baustelle waren, behindert hat, indem sie AUF DER FAHRBAHN UND AUF DEM
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