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Der Aufstand

Der Aufstand

Titel: Der Aufstand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sean McCabe
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verschmiert, und sie langweilte sich ganz offensichtlich zu Tode. Mürrisch drehte sie sich zu ihrer Mutter um und quengelte: «Mommy, ich will jetzt die
Vampire
sehen!»
    Alex drehte ruckartig den Kopf und starrte die Kleine durch die Menge an. Als das Kind ihren Blick auffing, wurde es blass, doch dann löste sich die Spannung des Augenblicks im allgemeinen Gelächter auf. Die Reiseführerin lächelte.
    «Ich nehme an, unsere fachkundige junge Dame bezieht sich auf eine gruselige Entdeckung, die man erst letztes Jahr hier in Venedig gemacht hat: auf den Fund von Schädeln, von denen behauptet wurde, sie würden von
echten Vampiren
stammen.»
    Gemurmel setzte sich durch die Menge fort, als die Touristen vorübergehend alles vergaßen, was sie gerade über Napoleon und den vierten Kreuzzug gehört hatten.
    «Sie haben richtig gehört», fuhr die Führerin fort, offenbar froh darüber, dass man ihr endlich zuhörte. «Sie haben mich richtig verstanden: Vampire. Es handelt sich um Frauenschädel, denen man Ziegelsteine oder Steinkeile in den Mund geschlagen hatte, um zu verhindern, dass sie weitere Opfer beißen konnten. Und dann, genau wie in der
Dracula-
Geschichte, soll man ihnen Pfähle durchs Herz getrieben haben.» Sie legte gezielt eine Kunstpause ein und schnitt eine Grimasse der Abscheu. «Aber die schreckliche Wahrheit ist, dass diese Frauen keineswegs blutsaugende Ungeheuer waren, sondern lediglich die unglückseligen Opfer eines Aberglaubens, der damals im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert noch sehr weit verbreitet war, als der Schwarze Tod die Stadt heimsuchte und 150 000 Menschen – ein Drittel der Bevölkerung Venedigs – dahinraffte.»
    Aus der Menge drang erneut fasziniertes Gemurmel zu der Fremdenführerin, die nun richtig in Fahrt kam.
    «Die Pest war nach Ansicht vieler eine Form vampirischer Besessenheit, weil aus den Mündern der Pestopfer kurz vor deren Tod Blut quoll. So kam es dazu, dass die verschiedenen Pestepidemien, die über die Jahrhunderte über Europa hinwegschwappten, den Glauben des einfachen Volkes an die Existenz von Vampiren noch zusätzlich verstärkten. Aber zum Glück wissen wir ja mittlerweile, dass Graf Dracula und seine Bräute
nicht
auf den Straßen Venedigs wandeln.»
    Alle lachten, außer Alex und Joel. «Für diejenigen unter Ihnen, die sich für das Thema interessieren», fügte die Führerin hinzu, «möchte ich noch hinzufügen, dass das schreckliche Wüten des Schwarzen Todes in Venedig in Werken von Malern wie Tintoretto und Zanchi verewigt ist, die in der Scuola Grande di San Rocco ausgestellt sind.» Sie lächelte. «Aber nun zurück zu der berühmten Basilika, vor der wir gerade stehen …»
    Alex hörte nichts mehr. Sie blickte Joel an und sah, dass er dieselbe Idee hatte.
    «Hast du das gehört?», fragte sie.
    Er war wie benommen, als es ihm klar wurde. «Zanchi.»
    «Genau. Man muss nur das Z wegnehmen, und dann hat man –»
    «Anchi. Das, worüber wir uns bisher vergeblich den Kopf zerbrochen haben.»
    Sie nickte. «Wir haben das falsch interpretiert. Der Typ war Maler – und was bekommt man in der italienischen Malerei jener Zeit immer zu sehen? Die Jungfrau Maria.»
    «Erlösung liegt zu Füßen der Jungfrau», sagte Joel nur.
    «Dann müssen wir also jetzt zur Scuola Grande di San Rocco.»
    Sie lösten sich von der Touristengruppe und hasteten über den Platz, zurück zum Canal Grande. Aus dem Augenwinkel sah Alex, wie die beiden Männer aus einem Eingang kamen und ihnen schnell hinterhertrabten.
    Als sie den Kanal erreichten, legte gerade ein Wasserbus an, um Passagiere an Land zu lassen. Als Alex beim Einsteigen zurückschaute, sah sie, wie die beiden Männer verärgerte Blicke tauschten. Sie winkte ihnen zu.
    «Tschüs, ihr Arschlöcher.» Sie lächelte vor sich hin, als der Wasserbus ablegte.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 61
    N ach dem sonnigen Vormittag wurde es am Nachmittag schnell frisch, als vom Wasser her Nebel aufzog, der so dicht war wie Rauch. Von Alex’ Haar tropfte schon die Feuchtigkeit, als sie endlich die barocke Fassade des rot und cremefarben gestrichenen Gebäudes fanden, in dem die Scuola Grande di San Rocco untergebracht war.
    Das Gebäude war fast menschenleer. Als sie die Säle der Gemäldegalerie durchstreiften, blätterte Joel aufmerksam die Broschüre durch, die er sich aus einem Ständer im Foyer genommen hatte.
    «Hey!», protestierte er, als Alex sie ihm aus der Hand riss und mit hoher Geschwindigkeit

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