Der Aufstand
überflog.
«Ich hab’s», sagte sie. «Wir müssen da lang.» Sie zeigte auf eine breite Treppe aus weißem Marmor und zupfte an seinem Ärmel.
«Was soll da sein?»
«Das da», antwortete sie und zeigte auf das riesige Gemälde, das die Wand rechts von der Treppe zierte. In der Wandmalerei war sehr detailliert eine Gruppe Menschen in verschiedenen Posen dargestellt, die mit staunenden, ehrfürchtigen Blicken zum Himmel deuteten, von dem ihnen auf einer Wolke eine Gestalt entgegenschwebte.
«Ich bin nicht gerade ein Fachmann», gestand Joel, als er sich dem Gemälde näherte.
«Glaubst du vielleicht, ich?» Alex wedelte mit der Broschüre. «Sehen wir doch mal nach.
Die Heilige Jungfrau erscheint den Opfern der Pest
, von Antonio Zanchi, geboren 1631 .»
«Du und deine Schnellleserei.»
«Und gemalt hat er es mit fünfunddreißig», fügte sie vielsagend hinzu.
Joel runzelte die Stirn. «Und das ist wichtig, weil –»
«Weil es bedeutet, dass wir den Teufel vergessen können. 666 war einfach nur ein Datum, bei dem die Ziffer Eins von Mäusen weggeknabbert worden ist.»
« 1666 », murmelte er. «Verdammt.»
Alex stieg zwei weitere Stufen hoch, um einen besseren Blick auf die göttliche Gestalt werfen zu können, die inmitten einer Heerschar von Engeln vom Himmel herabgeschwebt kam.
«Da haben wir ja unsere Jungfrau Maria», sagte sie und zeigte auf das Bild, «wie sie vom Himmel steigt, um die armen Pestopfer zu trösten.»
Joel suchte im Wandgemälde nach der Erlösung, die zu Füßen der Jungfrau liegen sollte. «Ich sehe hier nichts, jedenfalls kein Kreuz.»
«Ich auch nicht.» Alex schwieg ein paar Sekunden lang und stieß dann einen Seufzer aus. «Ich glaube nicht, dass es hier ist, Joel. Ich hatte mehr erhofft.»
Joel schaute sie an. «Bist du dir da sicher?»
«Ganz sicher. In den Notizen deines Großvaters sind so viele Lücken. Wir haben offenbar etwas Wichtiges übersehen.»
«Na wunderbar, dann sind wir also am falschen Ort.»
«Ja», erwiderte sie nachdenklich und starrte die breite Marmortreppe hinab ins Leere. Plötzlich legte sich ein Lächeln über ihr Gesicht.
«Du nimmst das ja ziemlich gelassen hin, wenn man bedenkt, dass das unsere einzige Spur war und wir jetzt ohne weitere Anhaltspunkte durch die Stadt ziehen müssen.»
Sie drehte sich zu ihm um. «San Rocco, ein Heiliger. Der muss doch ein ziemlich hohes Tier gewesen sein, oder? Wenn so viele Menschen ihn verehrten?»
«Nehme ich mal an. Aber worauf willst du hinaus?»
Sie blätterte die Broschüre noch einmal durch und hielt bei einer Seite inne. «Da. Genau, wie ich dachte. San Rocco hat seinen Namen nicht nur der Schule gegeben», erklärte sie. «Wo würdest du in Venedig am ehesten nach einer Heiligen Jungfrau suchen? In einer Kirche.»
«Und?»
«Wie wär’s mit der Kirche von San Rocco gleich nebenan?»
Sie rannten wieder hinaus. Der Nebel wurde in der aufkommenden Abenddämmerung noch dichter, und winzige Wassertröpfchen schwebten im goldenen Licht, das den Eingang der nahen Kirche beleuchtete. Auf einem Schild an der Kirchentür waren die Öffnungszeiten vermerkt: Ihnen blieben nur noch wenige Minuten, bis das Gotteshaus für diesen Tag seine Pforten schloss.
«Dann beeilen wir uns mal besser», meinte Joel, als er den Blick hastig über die schönen Fresken an der Kuppeldecke schweifen ließ, die kunstvollen Vergoldungen, den glänzenden Marmor und die Gemälde an den Wänden.
«Wir brauchen nicht lange», sagte Alex leise.
Sie wusste es schon von dem Augenblick an, als sie die Kirche betreten hatte. Das Gefühl in ihrem Kopf, in jeder Zelle ihres Körpers, war anders als alles andere, was sie je empfunden hatte. Es war kein Schmerz, sondern etwas Tiefergehendes und weitaus Schlimmeres.
«Der Fuß der Jungfrau», sagte Joel und deutete auf eine prächtige Marienstatue aus Onyx unweit des Altars.
«Nein.» Alex starrte auf eine andere Statue, die in einer Nische in der Wand stand. Sie hätte sie leicht übersehen können, wenn sie nicht dieses seltsame Gefühl zu ihr geleitet hätte. Sie war klein und schlicht, aus einfachem Alabaster und vom Alter angefressen. Alex trat einen Schritt auf sie zu, als ein ebenso plötzliches wie tiefes Unbehagen sie nach Luft schnappen und schnell wieder zurücktreten ließ. Das Gewicht ihres Rucksacks schien sie auf einmal zu Boden zu drücken.
«Die ist es», keuchte sie.
Joel war zu sehr auf die Statue konzentriert, um ihre Reaktion zu bemerken. «Wie kannst du
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