Der Aufstand
sich rasch bis zum Rand des Kanals aus und begannen, ins Wasser zu tropfen.
Joel stand schwankend auf. Blut lief ihm übers Gesicht, als er auf die beiden Leichen vor ihm hinabstarrte, deren Schädel wie miteinander verschmolzen dalagen. Der Anblick versetzte ihn achtzehn Jahre zurück. Plötzlich war er wieder ein Kind, das im Häuschen seines Großvaters hinter dem Treppengeländer kauerte, nur wenige Meter von den Leichen seiner Eltern entfernt, die auf dieselbe schreckliche Weise getötet worden waren.
Ihre Kraft. Ihre Schnelligkeit. Kein Mensch konnte sich so bewegen, mit derart spielerischer Leichtigkeit töten. Vor allem nicht nach vier Schüssen in die Brust.
Alex durchbrach schließlich die Stille. «Wir müssen hier weg.» Sie trat über die Toten und nahm Joels Arm. Er riss sich von ihr los, übel gezeichnet von den Tritten und Schlägen, die er hatte einstecken müssen. Aber nicht das war der Grund dafür, dass es ihm so schwerfiel, sich auf den Beinen zu halten.
Jetzt war ihm alles klar.
Er erinnerte sich daran, wie sie ihre Tasse hatte fallen lassen, als er das Kreuz erwähnt hatte. Wie sie wie gelähmt seine blutende Hand angestarrt hatte, nachdem er sich an der zerbrochenen Tischplatte geschnitten hatte. Die Frau, der er vertraut hatte. Die Frau, mit der er geschlafen hatte.
«Du bist eine … eine von ihnen. Du bist ein Vampir.»
«Joel, es ist nicht so, wie du denkst. Jedenfalls nicht ganz.»
Er kniff sich in die Wangen.
Wach auf, Joel.
«Sag mir, dass das nicht wahr ist», murmelte er.
«Joel –»
«Komm mir nicht zu nahe!» Er wich vor ihr zurück. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand nach ihm aus, und so umkreisten sie einander auf dem blutigen Pflaster.
«Bitte», flehte sie, «gib mir die Chance, dir ein paar Dinge zu erklären.»
«Zum Beispiel, wie du bei Tageslicht herumlaufen und dich als Mensch ausgeben kannst?»
«Das ist alles nicht mehr so wie früher.»
«Ist mir doch egal. Du beißt immer noch Menschen und trinkst ihr Blut.»
«Aber ich töte niemanden dafür. Das ist heute nicht mehr so.»
«Willst du damit sagen, Vampire sind jetzt die Guten?»
«Nicht alle. Nur die auf meiner Seite.»
«Du bist ein Fluch.»
«Ich bin nicht dein Feind, Joel. Gabriel Stone ist dein Feind. Deiner genauso wie meiner. Und er ist der schlimmste Feind, den du dir nur vorstellen kannst. Ich kann dir genau erklären, was hier abläuft –»
Joel spürte, wie sein Fuß gegen etwas Hartes stieß. Er wandte den Blick gerade so lange von ihr ab, bis er erkannte, dass es sich um das mit Blei ausgekleidete stählerne Futteral handelte. Er bückte sich und hob es mit beiden Händen auf. Als er es an seine Brust drückte, sah er, wie ihre Augen sich vor Schreck weiteten.
«Welche Wirkung hat es auf dich?»
«Joel –»
«Antworte mir, oder ich muss diesen Deckel öffnen, um es herauszufinden.»
Sie seufzte. «Dein Großvater hatte recht. Das Kreuz hat die Kraft, uns zu vernichten.»
«Warum ausgerechnet dieses eine Kreuz?»
«Das weiß niemand.»
«Du hast mich angelogen. Die ganze Scheiße mit deiner Schwester. Ich habe dir gesagt, dass ich an Vampire glaube – aber nicht, dass ich schon einmal einen getötet habe. Das ist zwar lange her, aber ich kann es jederzeit wieder tun. Und glaub mir, wenn ich fähig war, meinen eigenen Großvater zu töten, dann schaffe ich das auch mit dir.»
«Gib mir eine Stunde. Das genügt, um dir alles zu erklären. Dann verstehst du, warum wir dich brauchen und warum es so wichtig ist, dass du mit uns zusammenarbeitest.»
Er runzelte die Stirn. «Mit uns? Du meinst, mit euch Vampiren?»
«Es gibt so viel, von dem du keine Ahnung hast, von dem kein Mensch eine Ahnung hat. Ich arbeite für die World Vampire Federation, eine Art Vampir-Verbund mit eigenen Gesetzen, und wir werden von einem Aufstand bedroht, der von Gabriel Stone und seinen Leuten angeführt wird.»
«Glaubst du vielleicht, mich interessieren eure politischen Probleme? Du bist ein
Vampir
, Alex!»
«Du wirst dich wohl oder übel für diese unsere Probleme interessieren müssen, weil es verdammt übel für die Menschheit wäre, wenn Stone als Gewinner aus der Sache hervorginge. Wir beide müssen diesen Behälter zurück nach London bringen, und dann werden wir Stone gemeinsam vernichten.»
Joel schüttelte den Kopf. «Geh», schrie er. «Verschwinde von hier. Das ist deine einzige Chance, von mir wegzukommen. Wenn ich dich noch einmal sehe, Alex, bist du für
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