Der Aufstand
dann, so schnell er konnte, los. Unmittelbar vor einer Biegung entdeckte er die niedrigen Überreste einer Mauer. Er warf sich dahinter in Deckung, legte das Gewehr auf den Mauerresten auf und drückte die Wange an den Schaft der Waffe. Einen Augenblick später kamen die drei Wachen, die er zuvor gezählt hatte, um die Ecke gestürzt. Joel drückte ab. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, bevor der Rückschlag schmerzhaft seine verletzte Schulter traf. Er sah, wie einer der Männer sich an die Brust fasste und mit einem Schrei zu Boden ging.
Joel feuerte noch einmal. Ein zweiter Wachmann sank seitlich in den Schnee und ließ seine Waffe fallen. Der dritte hatte sich mittlerweile hinter einen Steinhaufen geduckt. Fast augenblicklich eröffnete er das Gegenfeuer mit seiner Maschinenpistole, dass Joel die Mauerreste nur so um die Ohren fegten. Unter wiederholten Feuerstößen, mit denen er ihn zwang, in Deckung zu bleiben, stand der Wachmann auf, sprang über die Leichen seiner Kameraden und kam auf die niedrige Mauer zugerannt.
Joel wälzte sich auf den Rücken und lud hektisch sein Gewehr durch. Er hob es genau in dem Augenblick an, als sein Gegner auf der Mauer erschien. Die Mündungen ihrer Waffen waren kaum einen Meter voneinander entfernt.
Im selben Sekundenbruchteil, in dem er den Rückstoß seiner Waffe spürte, spuckte die Maschinenpistole Feuer. Das Projektil aus Joels Gewehr drang unter dem Kinn des Wachmanns ein und blies ihm den halben Kopf weg.
Joel ließ das Gewehr fallen. Er spürte, dass er getroffen worden war, und zwar schwer. Er griff sich an den Oberschenkel und wäre fast in Ohnmacht gefallen, als er den zerrissenen Stoff seiner Hose spürte, das zerfetzte Fleisch und das heiße Blut, das ihm durch die Finger quoll.
«Wir werden angegriffen!», schrie Lillith. «Es ist das Kreuz!»
Stone war plötzlich leichenblass. «Solomon ist hier.»
Im oberen Hof des Schlosses entstand totales Chaos. Die Vampire rannten in alle Richtungen wild durcheinander, um der tödlichen Gefahr zu entfliehen. In ihrer Panik schienen Stones Leute die verbliebenen Gefangenen vollkommen vergessen zu haben. Olympia Angelopolis schaffte es, sich aus dem Staub zu machen, während die Wächter nur entsetzt und verwirrt herumstanden.
Das war Alex’ Chance. Sie kämpfte gegen das schreckliche Gefühl an, das sie überkam wie in Venedig, rannte zur Guillotine und riss die Riemen auf, mit denen Harry Rumble an die blutige Planke geschnallt war.
«Was läuft hier ab?», fragte der erstaunt.
«Joel ist hier», keuchte sie. «Er kann jeden Augenblick da sein. Wir müssen verschwinden.» Sie packte ihn am Handgelenk, und beide rannten los. Das Einzige, was sie in diesem Augenblick wollte, war, von der tödlichen Energie wegzukommen, die vom Kreuz ausging. Darüber, wie sie aus dem Schloss fliehen sollten, konnten sie sich später Gedanken machen. «Hier lang, Harry», rief sie und rannte mit ihm in die Dunkelheit.
Stone zerrte seine Schwester die Stufen zum großen Saal hoch und schrie den Vampir-Wächtern zu, sie sollten den Menschen aufhalten. Aber dann blieb Lillith plötzlich stehen.
«Lass mich runter, ich kann Solomon erledigen.»
«Nein, das kannst du nicht, Lillith.»
«Ich habe einen Revolver», sagte Zachary und zeigte auf das Fenster seines Zimmers im Turm über dem großen Saal.
«Dann hol ihn. Wir müssen diesen Menschen um jeden Preis aufhalten.»
Zachary lief, so schnell er konnte, auf die Gebäude zu.
Anton stand wie angewurzelt da, das Gesicht vor Hass verzerrt. «Ich brauche keine Schusswaffe», fauchte er. «Ich lebe doch nicht seit vierhundert Jahren, um mich jetzt von einem
Menschen
erledigen zu lassen. So weit wird es nicht kommen.»
Anastasia versuchte ihn aufzuhalten. «Nein, Anton, das überlebst du nicht.» Aber er stieß sie zur Seite und wankte in die Richtung davon, aus der die Schüsse kamen. Als die Wächter ihn sahen, folgten sie ihm, auch wenn sich ihre Qualen mit jedem Schritt sichtlich verschlimmerten.
«Komm zurück, Anton!», rief Anastasia ihm nach.
«Lass sie gehen», sagte Lillith. «Sie halten Solomon auf, bis Zachary mit der Waffe kommt.»
Aber es war bereits zu spät, Anastasia rannte hinter Anton her.
«Idioten», murmelte Stone. «Komm, Schwester.»
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Kapitel 84
J oel spürte, wie er mit dem Blut auch an Kraft verlor, während er sich auf die große Treppe zum oberen Burghof zuschleppte. Trotz der Eiseskälte rann ihm der Schweiß in
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