Der Aufstand
Sicht unmöglich schien? Sie war kerngesund und ganz normal gewesen, und sämtliche Untersuchungen waren ergebnislos verlaufen. Rein technisch betrachtet, war mit Kate Hawthorne alles in Ordnung – abgesehen davon, dass sie nun tot auf einem Edelstahltisch im Hauptgebäude gegenüber seines Büros lag.
Noch verwirrender waren die Wunden am Hals des Mädchens. Als Gillian ihn erstmals ins Haus gerufen hatte, hatten sie noch frisch gewirkt und das Fleisch um sie herum purpurrot und fleckig. Als er dann aber am Nachmittag Kates Leichnam gesehen hatte, waren die Male kaum mehr zu erkennen gewesen.
Er runzelte die Stirn. Nicht einmal bei einem gesunden Patienten war eine derart schnelle Wundheilung vorstellbar. Wie konnte dies dann bei einer Sterbenden der Fall sein? Das alles ergab einfach keinen Sinn.
War es möglich, dass er sich das nur eingebildet hatte? Hatten ihm die Lichtverhältnisse einen Streich gespielt? Oder war er allzu sehr abgelenkt gewesen von dem Durcheinander und der Trauer um ihn herum?
«Verdammt», fluchte er laut. «Sehen wir uns das eben noch einmal an.» Er stand von seinem Schreibtisch auf, verließ das Büro und ging durch den von Neonleuchten erhellten Korridor zum Hauptgebäude. Die Leichenhalle lag im Keller des Ostflügels. Dr. Andrews stieg die Treppe hinunter und trat durch die feuersicheren Türen in den Teil der Klinik, den er am wenigsten mochte.
Die Wände des Raums, den die Angestellten «die Kühlbox» nannten, waren mit Edelstahlpaneelen ausgekleidet. Hinter jeder einzelnen Platte befand sich ein auf Schienen herausziehbares, gut zwei Meter langes und knapp einen Meter breites Fach. Die einzelnen Abteile waren wie die Schubladen eines überdimensionierten Aktenschranks, jedes mit einem Namen und einer Nummer darauf. Da die Klinik nur eine kleine, private Einrichtung war, wurde die Kapazität der «Kühlbox» nie auch nur annähernd ausgeschöpft. Im schlimmsten Fall hatten sie vier oder fünf Leichen auf einmal. Er fand schnell das Schubfach mit Kate Hawthornes Namen und Einlieferungsnummer, holte tief Luft und zog an dem kalten Stahlgriff.
Fast widerstandslos glitt das Fach auf seinen Schienen heraus.
Er schaute hinein, blinzelte verwundert und schaute noch einmal.
Leer.
Dr. Andrews trat einen Schritt zurück. War da jemandem aus der Verwaltung ein Irrtum unterlaufen? Er wollte schon ein weiteres Fach herausziehen, als er hinter sich eine Stimme hörte.
«Hallo, Doktor. Suchen Sie nach mir?»
Er wirbelte herum.
Hinter ihm stand splitterfasernackt Kate Hawthorne. Sprachlos starrte er sie an, während sich in seinem Brustkorb ein schneller, trommelnder Rhythmus aufbaute.
Sie lächelte.
Gütiger Gott, diese Zähne.
Der Trommelwirbel wurde immer schneller und lauter und baute sich zu einem wahren Crescendo auf, bis …
Peng.
«Mein Herz –» Dr. Andrews griff sich an die Brust und schrie vor Schmerz auf, als der Herzanfall ihn durchfuhr. Seine Knie gaben nach; er fiel vornüber und spürte, wie er mit dem Kopf auf den gekachelten Fußboden krachte. Er verdrehte die Augen und sah durch den immer dichter werdenden Nebel nur noch, wie Kate Hawthorne mit leuchtenden Augen auf ihn herabschaute und sich vor ihren roten Lippen weiße Fangzähne abzeichneten. Dann sah er gar nichts mehr.
Crowmoor Hall
20.12 Uhr
S chlitternd kam Lillith mit ihrem knallgelben Lotus auf dem Kies zum Stehen. Sie riss die Tür auf und schnappte sich das Bündel vom Beifahrersitz. Es wand sich kraftlos in ihren Armen, als sie es ins dunkle Haus trug. Sie war zwar noch satt von ihrer Abendmahlzeit, aber wer sagte, dass man unbedingt hungrig sein musste, um etwas zu sich zu nehmen? Ein Nachtisch konnte nie schaden.
Mit diesem Gedanken schritt sie durch die finsteren Flure zum Turm im Ostflügel, wo ihre Privatgemächer lagen. Als eine Tür knarrte, drehte sie sich um und sah Finch.
«Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?», fragte sie ihn, als sie die Blutergüsse sah. In ernstem, feierlichem Ton erzählte er ihr von seinem Aufeinandertreffen mit dem Polizisten Solomon.
«Interessant», schnurrte Lillith. «Dann wissen wir jetzt also alles über unseren kleinen kreuztragenden Freund.»
Während sie sprach, lief ihr Vampirgehirn auf Hochtouren. Dann hatte dieses Menschlein also doch nicht das Kreuz von Ardaich gefunden. Wäre seine Behauptung mehr gewesen als ein verzweifelter Bluff, hätte er sie alle vernichten können, und Gabriel hätte bei seiner Rückkehr einen Friedhof
Weitere Kostenlose Bücher