Der Augenblick der Liebe
Liebe Beate beginnen. Und das, obwohl sie sich gleich im ersten Brief einen krassen Vergleich abgerungen hatte, daß nämlich,
ihren Vornamen serviert zu bekommen, für sie sei, als biete
man ihr an einem heißen Tag ein Glas Eau de Cologne zum
Trinken an. Würde er sie weiterhin so wenig ernst nehmen,
mußte dieses heftige Aufkeimen einer eher abenteuerlich
anmutenden Beziehung im Gedankensand der Selbstbeherr‐
schung erstickt werden. So!
Nachdem Madelon und sie im vergangenen Winter ihre Er‐
fahrungen mit Vornamen ausgetauscht hatten, hatte Made‐
lon im Sommersemester einen Kurs über Vornamen angebo‐
ten. Bei Charles Bernheimer stehe, sagte Madelon, strange first names were symptomatic of latent family degeneracy.
Ihr Beate‐Trauma kam vom Gegenteil, kam von der
furchtbaren Gewöhnlichkeit, die ihr aus diesem Vornamen
entgegenschlug. Triefend vor Gutgemeintheit, das war für
sie Beate. Ihm hatte sie das alles gleich im ersten Brief gestanden. Hatte mit ihrem Vornamensproblem begründet,
daß sie auch seinen oder seine Vornamen nicht aufs Papier bringe. Und kokett hinzugefügt: Oder heißt es zu Papier
bringe. Nach sieben Jahren Englisch begännen ihr die
deutschen Präpositionen zu verschwimmen. Sie schlug vor,
daß sie in Zukunft mit Julien oder Offray beginne, und
schließe mit Juliette. Warum sollten sie einander mit Namen
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nennen, die andere ihnen verpaßt hatten? Warum konnten
sie einander nicht etwas anderes sein als anderen? Das
schrieb sie nicht, aber sie dachte es. Und ihr Denken
wucherte so, daß sie in den Briefen streng darauf achten mußte, ihre Fortgeschrittenheit nicht auf seine Zurückgeblie-benheit prallen zu lassen. Falls er wirklich zurückgeblieben war und nicht nur so tat, als ginge es um nichts als La Mettrie.
Cher Julien, cordialement Juliette. Sie sollten einander
einfach taufen! So übermütig gab sie sich dann doch. Und er?
Er habe, was in ihrem Vornamen zu singen sei, zur Melodie
gemacht: b‐e‐a‐d‐e. Für den t‐d‐Austausch bitte er um
Verzeihung. Diese Töne seien inzwischen mächtig geworden
in ihm. Und fuhr fort, Briefe mit Beate zu eröffnen und mit Gottlieb Zürn zu schließen. Also fuhr sie fort, in Anrede und
Schlußgruß namenlos zu bleiben. Jetzt wollen wir doch
einmal sehen, wer nachgibt. Oder sollte sie hoffen, Gottlieb Zürn könne sie, so wie er sie auf seiner Terrasse einen Augenblick lang in ihrem Körper hatte heimisch werden
lassen, auch noch mit Beate versöhnen? Als Vierzehnjährige
hatte sie ihrer zwölfjährigen Schwester Bettina einen Vorna‐
menstausch angeboten, war aber von dem frühreifen Gör
nur ausgelacht worden. Und jetzt einem Mann konfrontiert,
der offenbar ein Vornamensvirtuose war! Rosa, Magda, Julia,
Regina. Lauter Volltreffer. Oder wirkten die vier Töchternamen nur so geglückt, weil der Kerl auf seiner Terrasse die
Namen präsentierte, wie man im Zirkus prächtige Tiere, eins
nach dem anderen, in der Arena auftreten läßt?
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Dr. Douglas hatte von Anfang an gesagt, sie solle sich um
ihren Vornamen nicht kümmern. Vorerst. Der löse sich eines
schönen Tages von selber auf. Aber Madelon hatte keinen
Sinn für Umwege. Sie nannte Beate inzwischen nur noch
Juliette. Und die hatte das Gefühl, in diesen Namen könne sie hineinwachsen. Vielleicht lief sie schon bald mit dem hier
üblichen Vornamen‐Doppelpack herum. Beate J. Gutbrod.
Also mit J. − das J. englisch − klang das schon einmal nicht so
schlecht. Sie beschloß, Briefe probeweise mit Beate J. zu unterschreiben. Wenn der Flugplatz Durham‐Raleigh nach
ihr benannt werden würde, B. J. G., das klang noch besser als
J. F. K.! Hoffentlich begriff Herr Zürn ihren Ernst bei diesem
Spiel. Aber auch das, was Spiel war in ihrem Ernst. Auf seiner Terrasse hatte sie La Mettrie gehabt als Text für alles,
was sie hatte sagen wollen. Gottliebs zögerliche Art hatte sie
ermutigt. Seine Manier, Sätze nicht zu beenden. Es lohnte sich doch nicht, Sätze zu beenden! Sie hatte sich wohlgefühlt
bei diesen hängengebliebenen Sätzen. Dieser Mann sprach,
wie er war! Kam bei ihr so gut wie nie vor. Von La Mettrie schwärmend, hatte sie wenigstens eine Art Sehnsucht
ausdrücken wollen. Nichts gelten lassen als die eigene
Erfahrung und die davon lebende imagination. Warum sollte man sich nicht selbst zum Thema machen? Ob Herr Zürn‐Krall den Satz kannte? Den würde sie ihm schreiben. Mit
Quellenangabe: Systéme dʹÉpicure. Und
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