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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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die, die über La Mettrie schreiben, sollen jetzt ihn, ausschließlich ihn zum Thema machen?! Und ausschließlich ihn, das ginge ja noch, sie aber soll erforschen, darstellen, wie er von Lessing und Friedrich II. bis Bernd A. Laska und Ursula Pia Jauch in Deutschland verstanden wurde. Er selbst beruft sich, wenn 49
    er sein Thema sein will, auf Montaigne. Also beruft sie sich auf ihn! Sie will auch ihr Thema sein (dürfen). Und wird nicht wagen, es zu sein! Und das wird alles verderben!
    Natur, sonst nichts. Das Leben. Es hat nie etwas anderes gegeben. Zu‐geschmiert von Lüge, Tünche, Kulturtapete.
    Wendelin Kraus erster Aufsatz: La Mettrie war vor Rousseau.
    Die Befreiung der Natur aus ihrer Stromerzeugungs‐
    sklaverei. Vom Verwandlungszwang. Sie ist doch in ihrer
    kleinen Zehe ganz enthalten! Sie liebt ihre kleine Zehe! Die linke und die rechte! Ihre kleinen Zehen sind ihr wichtiger als Descartes, Kant, Hegel und Konsorten. Daß die Schönheit ... ach, die Schönheit ... Und er hatte nicht bemerkt, daß
    er sie schöner gemacht hatte als sie ist. Er hat sie ein bißchen angebetet. La Mettrie war Zeuge. Sie ist durch ihn in ihren Körper hineingewachsen. Sie hatte das Gefühl, sie könnte
    nackt auf seiner Terrasse stolzieren. Als die Frau gegangen war. Nach Pfullendorf.
    Dieser Anfall von Lust auf Sichzeigen war ihr neu gewesen.
    Sie hat an die Geschlechtsgenossen ihres Gastgebers gedacht,
    die sich darin gefallen hatten, ihr zu sagen, sie rundete sich in der und der Partie zu sehr. Und dann ihre Brüste! Brüste
    waren nicht mehr gefragt! Sie hat im letzten Semester sechs Kilo abgenommen. Er hatte sie dort auf der Terrasse,
    nachdem die Frau aufgebrochen war nach Pfullendorf, so
    angeschaut, daß sie ihm das mit den sechs Kilo am liebsten gesagt hätte. Durch ihn, nur durch seine Art, sie anzuschauen, war sie von einem unmißverständlichen Übermut
    durchströmt worden. Sechs Kilo abgenommen, was sagen
    Sie dazu! Aber so etwas kann man nicht sagen. Genau das,

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    was man am allerliebsten sagen möchte, kann man am
    allerwenigsten sagen.
    Ach, Herr La Mettrie. Nancy Fridays Jealousy. Gerade gelesen. Sich von Büchern entdecken lassen. Tut am wenigsten weh. Sie ist doch immer unglücklich verliebt ge‐
    wesen. Weil sie anders geliebt hat, als sie geliebt worden ist.
    Sie ist eine Liebende. Eine Art Midasfluch. Sie will nicht einmal sich selber klar machen, wie sie das meint. Seine Tarte
    Tatin war eine Kulturleistung. Die zweieinhalb Stunden mit
    ihm auf der Terrasse waren Stress. Ihn beeindrucken zu
    wollen, das war Stress. Er ist nicht zu beeindrucken. Nicht mehr. Das kann auch nur ihr passieren, jemanden beeindrucken zu wollen, der nicht oder nicht mehr beeindruckbar
    ist. Und sie meint nicht sein Alter, sondern sein ... seine Fassung, seine Haltung, seine ganze, von ihr auf nichts
    zurückführbare Unbeeindruckbarkeit. Bei La Mettrie gelernt:
    Etwas, was man durch keine Erfahrung belegen kann, nicht
    durch Einfälle ersetzen. Er hat sie einen Augenblick lang, mehrere Augenblicke lang ein bißchen angebetet. Aber dann
    war er wieder gefaßt gewesen. Dann wieder nicht. Aber
    dann doch wieder. Vor lauter Unterrichtenmüssen wird sie
    zu keinem eigenen Gedanken kommen. Gedankenflucht.
    Ihre Lieblingsbeschäftigung. Sich treiben lassen! Ferien!
    Fünfzehn Studenten sollten in fünf Ferienwochen das
    Pensum eines ganzen Semesters schaffen. Deutsch als Philo-sophensprache. Daß sie dann in Professor Glen O. Rosennes Nietzsche‐Kurs mitkämen. Sie hatte jedem Studenten so
    helfen wollen, wie ihr dort auf der Terrasse geholfen worden
    war. Angeblich zweieinhalb Stunden lang. Zusammenge‐
    schnurrt auf einen Augenblick. Das Terrassenwunder. So

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    wollte sie von jetzt an auf ihre Studenten wirken. Hegel geht
    ohne Aufhebung nicht, und aufheben ist süddeutsch, da heißt es, etwas bewahren, wozu ist sie bei Hegel daheim geboren,
    aber es heißt auch, etwas nicht liegen lassen, wo es bis jetzt lag, also sublate kann nur ein abstrakter Hauch sein von dem, was Hegel aufhebt, wenn er von Aufhebung spricht. Und wer nicht weiß, daß reification eigentlich Verdinglichung heißt, ist arm dran. Oder Nietzsches Gebrauch von Bosheit, Mitleiden, Weib, Aufklärung, Vornehmheit, Tugend und Höhe und Tiefe.
    Ferien! Als sie kurz vor Semesterende eher frivol durchs Ph. D. ‐ Qualifying Exam gestolpert war, hatte Professor Glen O. Rosenne die Dissertation angemahnt: Ende Septem-ber die Gliederung, im Januar die Rohfassung

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