Der Augenblick der Liebe
der ersten drei
Kapitel. Sie hatte, ohne triftigen Anlaß, hingeplaudert, die Arbeit werde acht Kapitel enthalten. Das hatte seinen
Appetit gereizt. Und Rick Hardy, von allen Rosenne‐
Assistenten der dünnlippigste, hatte gegrinst und gesagt, er kenne Beate − wie die Beate herausquälten, weil sie
vermeiden mußten, daß es nach beauty klang −, Beate werde
im Januar nicht drei, sondern sechs Kapitel liefern. Vielleicht
suchte Rosenne Assistenten, die so wenig Lippen hatten wie
er selbst. Er wurde als lizard gehandelt. Rick Hardy war nach der Prüfung mit ihr essen gegangen und hatte ihr seine
Dissertation überreicht. Gedruckt. Revolt as Part of Socia-lization. Mit Widmung. You are of my kin. Ein anmaßendes, besitzergreifendes Kompliment. Und ever yours. Bei dem
Händedruck, mit dem er ihr gratuliert hatte, hatte sie leise aufgeschrieen. Obwohl man wußte, daß er immer seine
ganze Kraft in den Händedruck legte, war man dann doch
jedes Mal wieder unvorbereitet. Herr Zürn‐Krall hatte ihre 52
Hand auch ein bißchen fester gedrückt, als zu erwarten war,
aber sein fester war ein Seligkeitsblitz, verglichen mit der Quetschung, die einem Rick Hardy antat. Daß Ricks Frau ihn
wieder betrogen hatte, erwähnte er nebenbei, wie er das
jedesmal erwähnte, wenn man mit ihm allein war. Er habe Elaine jetzt hinausgeworfen, sagte er diesmal so dazu, als habe er damit zum letzten Mal von dieser Frau gesprochen.
Revolte als Unterwerfung, das wäre ihr Titel, wenn sie eine Dissertation über Rick Hardy zu schreiben hätte. Der Rebell
als Anwanze. Aber bei diesem Mittagessen hatte er ihr leid getan. Sie hatte ihm einen Augenblick eine Hand auf sein haariges Handgelenk gelegt. Auf dem Kopf nichts, aber sonst
quollen bei dem die Haare aus allen Öffnungen. Sie mußte ihn besser behandeln. Nahm sie sich vor. Sie hatte ihn immer
Verachtung spüren lassen wollen, weil er so erfolgreich war
und weil sie glaubte, er befördere seinen Erfolg durch jene als Revolte verkaufte Unterwerfung. So was kam an. Sie
würde ihn von jetzt an anders behandeln. Er sollte glauben,
daß er auch bei ihr angekommen sei. Schaden konnte es
nichts. Rick würde Karriere machen.
Iʹve not yet organized myself today. Wieder einmal. Dieses
unsolide Durcheinander zog natürlich Madelon an. Wenn
deren eigenes Leben an einem Tag zu wenig Organisations‐
bedarf bot, bei Beate J. Gutbrod geisterte immer ein Dilemma
herum, das nur von Madelon Pierpoints Südstaatentem‐
perament in das Nichts verjagt werden konnte, in das es gehörte. Life goes to the movies. So einfach war das heute.
Madelon genoß es, wenn ihr gehorcht wurde. Und Beate J.
genoß es, Madelon zu gehorchen. Madelon stammte aus
einer jener Familien, die ihre Einwanderererfahrungen wie
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einen Schmuck tragen. Da wurde bewahrt und vollfarbig
erzählt, was, wenn die Familie zu Hause geblieben wäre,
kaum die Saison, in der es passierte, überlebt hätte. Beate J.
konnte von dieser Art Amerikanistik gar nicht genug
kriegen. Die erste Frau von Madelons Großvater war eine
Freundin der Frau Sacher in Wien. Die zweite Frau ihres Großvaters kriegte von der ersten das Rezept für die Torte.
Sie mußte versprechen, das Rezept nur innerhalb der Familie
weiterzugeben. Als ihre Köchin es einmal einer Schwester
weitergegeben hatte, wurde sie entlassen. Diese Köchin‐
Schwester hat aber nachweisen können, daß sie das Rezept vom Enkel eines ungarischen Kochs hat, der in Wien bei der
Konkurrenz von Sacher gelernt hatte. Also wurde die Köchin
wieder eingestellt.
Madelon arbeitete an ihrer Beate. Sie konkurrierte mit Dr.
Douglas. Kürzlich hatte sie eine Notiz in Beates Fach gelegt:
The doctorʹs familiarity with the patientʹs history is
contrasted with the doctorʹs anonymity to the patient. There
is a power structure expressed in the unmasking of the
patientʹs inner life vs the consistent masking of the doctorʹs private sphere. The dilemma of transference. One‐way traffic.
The patientʹs illusion of intimacy in a Professional relationship. And once more the well known pattern: the unapproa‐
chable paternal figure. You know less about the person Dr.
Rufus Douglas than about any other man.
Madelon kämpfte um ihre Freundin und verband diesen
Kampf mit ihrer Doktorarbeit.
Freud, as Novelist of the Victorian Age. Untertitel: The Pseudo-Illness of the Feminine Other.
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The sociosexual atmosphere im bürgerlichen Wien um 1900
machte sie
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