Der Augenblick der Liebe
ins mildeste biogra‐
phische Tageslicht. Das kam ihr gerade recht. Sie servierte 82
ihm sofort den Traum der letzten Nacht. Die Douglas‐
mäßigen free associations konnte sie sich diesmal (oder für immer) ersparen. Also: Sie war auf einem Bahnhof, Typ
Central Station N.Y., sie verabschiedete sich zärtlich von einem Mann, stieg ein, ihr folgte ein anderer Mann, der die Verabschiedung beobachtet hatte, er trug ihre zwei grell-roten Taschen hinter ihr in den Zug, er war der Typ Priester,
er sei, sagt er, nur für das Gepäck in den Zug gestiegen, er muß den Zug wieder verlassen, aber dann küßt er sie, sie küßt ihn, er sagt, er werde mitfahren, sie erschrickt, darauf er: Wenigstens ein paar Stationen. Dazu teilt die Traum-lieferantin mit: Die Abwehr einer an Freud geschulten
Traumauslegung empfinde sie als eine Ablehnung ihrer
wissenschaftlichen Arbeit überhaupt. Sie soll pur daher‐
kommen, ja! In ihr rege sich eine ursprüngliche Wut. Auf den Priester. Aus Deutschland. Sie hatte nämlich gedacht, sie, sie beide, könnten das Persönliche und das Berufliche auseinanderhalten. Andererseits würde sie gern, gesteht sie,
für ihr Berufliches (La Mettrie in Deutschland) von ihm
persönlich Energien empfangen. Schon wieder empfangen.
Demnächst wird sie, um sich La Mettrie unverstellt widmen
(hingeben!) zu können, ihren Eisprungtag mitteilen. Und: ob
diesmal links oder rechts. Aber daß sie (er und sie) ihr Laienspiel auch als Traumspiel betreiben können (eine Zeit lang!), glaubt sie schon. Hat doch der Körperpatron Julien sie
wissen lassen, daß die Träume die treuen Überbringer der Ideen vom Tage seien. Nun kauen Sie mal! Ohne Freud‐Zähne!
Bei der Graduate‐Party kamen auch die Telephonkosten
dran. Die Neulinge wollten die hiesigen Billigtarife wissen.
Von Deutschland aus 10 Minuten 30 Euro. Sie erschrak.
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Soviel Geld für eine Frau, die er noch gar nicht kennt. Sie wird, sollte er je neben ihr liegen, nie einschlafen. Sie muß Augenblicke sammeln. Für immer. Sie hat gestern Alles Eins
wieder gelesen. Das hat keiner so ansprechend, einnehmend
gesagt wie er: Worin La Mettrie nicht übertroffen werden kann. In der Instinktsicherheit. Nicht mehr zu sagen, als man
erfahren kann. Etwas, was man nicht, noch nicht wissen
kann, nicht mit Wörtern zuschmieren, die so tun, als wisse man das, was man nicht, noch nicht wissen kann. Beleg und
Beweis: Leibniz. Über den sagt der Patron: Er hat die Materie spiritualisiert, statt die Seele zu materialisieren. Aber Gottlieb W.
hat es erlebt und berichtet, wie Bewegung und Empfindung
einander hervorbringen. Sie liest und liest. Ist hochbewegt.
Also empfindlich. Sie hört die Grillen und macht eine Erfah‐
rung und weiß, daß diese Erfahrung niemanden interessiert.
Zur Zikadenmusik möchte sie jetzt ihn anrufen, nur um auch
noch das Überseerauschen zu hören, zum Zikadenschwall.
Sie weiß, daß alles, was sie jetzt denkt und tut, nichts ist als die Feier seiner Nichtanwesenheit.
Der Sexual Harassment Officer rief an. Rick Hardy hat alles
als joke erklärt. Sollte, was er als Witz und Parodie und Unterhaltungsbeitrag gedacht hat, falsch verstanden, also für
ernst gemeint gehalten worden sein, tut ihm das awfully
leid. Er ist bereit, für die Stiftung eines solchen Mißverständ‐
nisses jede Buße zu tun, die die Mißverstehende billigerweise
von ihm fordern könne. Sie rief den Officer an und sagte, sie
ziehe ihr Schreiben zurück, da sie sich für eine Auseinan-dersetzung nicht stark genug fühle. Das kam ihr diplo‐
matisch vor.
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Von Dr. Douglas geträumt. Sie fühlte seinen muskulösen
Nacken. Seine Wohnung, ein Antiquitätengeschäft. Die Um‐
armung, leidenschaftlich. Er führte sie zur Couch. Weiterhin
leidenschaftlicher Verlauf. Er, tätowiert, amputiert, Stumpf hier, Stumpf da, Vietnam‐Veteran. Sie hat einfach keinen
Bock, die counter transference‐Bildchen in Deutschlands
Süden zu mailen. Aber daß sie sich im Traum bewies, sie könne Ekelerregendes deftig lieben − was beweist das dem German Other? Viel! Alles nur Kastrationskomplex, wa!
Nicht: Penis weg! Sondern: Phallus runter! Welch eine
Sklaverei. Unter Wörtern gehen wie unterm Joch. Jede
Bewegung schmerzt, weil die Vokabularketten scheuern. Da
soll jemand zu sich kommen! Und wo kommt er hm? Zu
Vokabeln! Das, was man außen trägt, kann dadurch, daß
manʹs wählt, zusammenstellt und dann trägt, zu etwas
erträglich Eigenem werden.
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