Der Augenblick der Liebe
Against all odds! Dem
schrillen Wecker zuvorkommend. So aufzuwachen! Sie sollte
seinen Gefühlen vertrauen. Seine letzten Briefe waren doch, trotz des alles beherrschenden Konjunktivs, Liebesbriefe.
Und gerade das bezweifelte sie. Die ganze Briefschreiberei nur ein Spiel. Wenn nicht, dann wäre doch dieses Hin und Her längst hinaus über einfaches Verliebtsein. Der Ventilator
summte. Die Nächte kühlten nicht mehr ab. Er hat ihre
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Selbstzensur zersetzt. Thanks for lending yourself to my
fiction. In zehn Tagen begann der normale Unterricht. Jeden
Morgen von 8 bis 10 Uhr 30. Nur noch leise Wut auf sich selbst. Weil sie sich nicht rechtzeitig abgefangen hat. Wann wäre das gewesen, rechtzeitig? Und schon vermißte sie
morgens sein Wecken. So schnell entsteht eine Erwartung.
Alberta Hunter. Ihre Trösterin. Und bügeln. Drei Ladungen Wäsche. Und Haare waschen. In der Hitze jetzt: abschneiden
lassen. Nein. Durchhalten. Seinetwegen. Bis März. Bis ...
Immer noch fehlten ihr seine Hände. Auf der Terrasse hatte
sie − es dauerte ja, alles in allem, nur zweieinhalb Stunden −
nichts als sein Gesicht mitgekriegt. Mund und Augen, sonst
nichts. Wahrscheinlich hat das Cordhemd mit seinem
verzehrenden Lichtblau die Hände praktisch verschwinden
lassen. Vielleicht hat sie deswegen von einem Dr. Douglas mit amputierten Händen geträumt. Schlicht beängstigend:
daß sie sich nicht mehr am Ausmalen seiner Anwesenheit zu
hindern vermag. Und jedesmal läuft der selbe Film ab. Sie wird auf ihn warten, er kommt auf sie zu, und blitzartig wird
klar sein: was sie einen Sommer lang gesponnen, geredet, geschrieben haben, hat mit dem jetzt Wirklichen nichts
gemein. Irgendwann wird dann doch einer von beiden etwas
sagen. Sie weiß: nur jetzt kein falsches Wort. Vor allem: kein
Wort zuviel. Und hört sich reden wie einen Sturzbach. Sie war doch dort auf der Terrasse mit Tarte Tatin, Frau Anna, dunkelstblau gewandet, und mit einer dicken glatten rein
runden Goldkette bewehrt, mit Calvados und den pünkt‐
lichen Schwänen und der Orgel La Mettrie, da war sie doch
zu self‐conscious − deutsch sagt man wohl, eher rätselhaft, befangen dazu −, um von ihm mehr als die Augen und den 91
Mund für spätere Abrufbarkeit zu speichern. Der Mund, der
sich selber andauernd zurücknehmende und eben dadurch
auf sich aufmerksam machende. Die meisten Männer hier
sind, darf man sagen, dünnlippig. Oberlizard: Glen O.
Rosenne. Zuzugeben ist, daß sie, bevor er wirklich hier
eintreffen wird, gern ein Photo hätte, eins ganz von vorn, vielleicht MIT Händen, einfach daß sie, was sich in ihr zusammengebraut hat, ein bißchen der Wirklichkeit anglei-chen kann. Diese Angleichung etwa zu verschieben, bis er auf ihrem Sofa sitzt, hält sie für riskant. Ihr Sofa, das sie übrigens aus dem Hinterlaß einer Mörderin gekauft hat −
Mörderinnen‐Hausrat ist der billigste −, ihr hellbeiges und trotzdem fleckenloses Sofa eignet sich nicht zu solchen
Maßnahmen. Sobald er und sie bei ihr sind, verliert sie den Verstand. Sie hält es für fair, ihm das schon vorher
mitzuteilen. Heiliger Julien Offray, steh uns bei. Sie können sich doch, wenn er da ist, kalifornischen Rotwein einflößen, vorsätzlich, mildernder Umstände wegen. Und wie kommt
sie überhaupt dazu, sich ihn hier vorzustellen! Hierher wird
er nie kommen. Vier Tage Kalifornien. Oder fliegt er dann noch mit nach NC? Schlüpft hier herein und unter.
Schlüpfen! Deutsch ist toll!
In genau 6 ½ Stunden ist es eine Woche her, daß er sie geweckt hat. Sie wünscht sich, die Zeit zurückdrehen zu
können, daß sie die letzten drei Telephonate noch vor sich hätte. Daß er telephonisch die sogenannte Fassung leichter verliert als auf dem Papier, erfüllt sie mit den rosigsten Hoffnungen! Daß er beim gestrigen Morgengespräch fragte,
was sie denn heute anziehe, hat sie sozusagen bezaubert.
Noch keinen Mann hat das bisher interessiert. Da war immer
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sie diejenige, die sich dem Jeweiligen ausmalen mußte.
Denen schien ihre aktuelle Erscheinung immer nicht der
Rede wert. Könnte es sein, glutet sie sich jetzt vor, daß er der zartestaufmerksamstegefühlvollste Mensch ist, den sie bis
jetzt getroffen hat? Ach nein. Bitte, keine ungebührliche Erwartung, gar Forderung. Er soll das schurkischste Nullund-nichts sein. Ihr ist es (er) recht. Daß sein schriftliches Immerallesgesagtewiederzurücknehmen eine Art Ehrlich-keitstalent verrät, weiß sie. Aber als
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