Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
geleistet, seine Mitwirkung
    im Immobiliengeschäft aufs Schriftliche einzuschränken. Er

    77
    ist ein Lyriker, der schweigt. Als Denker Amateur. Selbst unter hiesigen Immobilienhändlern gibt es zwei (Schatz und
    Kaltammer heißen sie), die sie, das Mädchen aus North
    Carolina, viel anziehender finden müßte als ihn. Gut, die kennt sie nicht. Er nennt seine beiden ihm in jeder gesell-schaftlichen, überhaupt in jeder irdischen Schätzbarkeit
    überlegenen Konkurrenten, um sich selber für sie, das
    Mädchen aus dem Westen, richtig einzustufen. Er ist der
    lehrbuchreife Mittelstand in Gewicht, Geld, Ansichten,
    Aussichten. In ihm, an ihm ist nichts Mitreißendes, und
    Spektakuläres schon gar nicht. Und er klassifiziert sich so im
    Vergleich zu seinen beiden Konkurrenten − wohlgemerkt, er
    hat, Anna sei Dank, aus dieser ihn andauernd verstörenden Konkurrenz aussteigen können − nicht etwa, um von ihr
    oder von irgend jemandem sonst das Gegenteil zu hören. Er
    − das immerhin hat seine auf sich selbst, also auf wenig bis nichts gestellte Existenz erbracht − er ist versöhnt, überhaupt
    versöhnt, aber auch versöhnt mit sich selbst. Er gibt zu, das
    ist die erste Aussage in dieser Selbstpreisgabe, die nicht ganz
    und gar wahr ist. Und alles, was nicht ganz und gar wahr ist,
    ist komplett erlogen. Es gibt keine Halbwahrheit. Aber
    erlogen, das heißt nicht, daß etwas vorwerfbar sei. Erlogen, das heißt nur, daß es sich um Nochnichtverwirklichtes
    handelt. Man muß, was man noch nicht schafft und ist, zu erlügen versuchen (im Sinn von erreichen, erfühlen usw.)
    Also, was er alles nicht ist! Nicht einmal ein Blender ist er.
    Ihm fehlt die überall verlangte, erwartete und akzeptierte Hochstaplerbegabung fast ganz. Soll sie doch, bitte, einmal, flüchtigst, von seinen beiden Konkurrenten, ehemaligen
    Konkurrenten Kenntnis nehmen. Da ist zuallererst Jarl

    78
    F. Kaltammer, der, ganz früh, seinen Namen dressiert hat zur Produktion von Kennedy‐Initialen. Dann radikal links,
    Anführer bei Häuserbesetzungen, Verfasser des Aufrufs, den
    Immobilienhandel als obsolet und politisch unsittlich abzu-haffen, inzwischen läßt er sich in Privatflugzeugen zu seinen
    Objekten fliegen, ist ausschließlich Schlössermakler, er‐
    scheint vor dem Notar entweder in flaschengrünen oder in bordeauxroten Seidenanzügen, seine Firma residiert auf
    Little Cayman, zahlt also dem deutschen Staat keine Steuern,
    aber nicht aus Geiz, sondern aus Verachtung, er ist Anar-chist, und als Staatsverächter gilt er als Intellektueller. Auf dem Kopf hat dieser Kaltammer eine platinhelle Haartracht,
    die man, solange man nicht versucht hat, sie herun‐
    terzureißen, für naturwüchsig halten muß. Zweitens, das
    prachtvoll heimisch‐demokratische Gegenstück und Su‐
    permannsbild Paul Schatz, die Beliebtheit schlechthin. Also, jetzt das Geständnis aller Geständnisse, dessen außer ihr noch kein Mensch teilhaftig werden durfte: Gottlieb mußte den Handel quittieren, weil es diesen Paul Schatz gibt.
    Irgendwann einmal, es war an einem Abend im Juni, das ist
    hier der eigentliche Lebensmonat, da mußte er sich Paul
    Schatz mit stehendem Geschlechtsteil vorstellen. Von diesem
    Abend an konnte er sich gegen diese Vorstellung nicht mehr
    wehren. Wenn er auch nur an Paul Schatz dachte oder wenn
    dessen Namen erwähnt wurde, und das war sozusagen
    andauernd der Fall, sah er den verhältnismäßig kleinen Paul
    Schatz hinter seinem hochstehenden Geschlechtsteil stehen.
    Er fing an, sich zu wehren, stellte sich Paul Schatz als Bankbeamten hinter dem Schalter vor, auf dem Tennisplatz,
    im Konzert, in Situationen, die ein stehendes Geschlechtsteil

    79
    einfach unwahrscheinlich machten, es nützte nichts. Also
    gut, wenn er sich Paul Schatz nur noch so denken konnte, so
    würde er sich eben daran gewöhnen, sich Paul Schatz so zu
    denken. Was sollʹs. Soll der eben mit ewig stehendem
    Geschlechtsteil herumlaufen. Das mußte Paul Schatz mehr
    stören als ihn. Aber zu einer wirklichen Entspannung
    führten solche Übungen nicht. Es blieb quälend, sich Paul Schatz so vorstellen zu müssen.
    Brennen sich ihm nur Vorstellungen ein, die ihn quälen?
    Neigt er zu ihn Quälendem? Auf jeden Fall konnte er froh sein, daß Anna den Handel übernahm. Bei Rousseau und La
    Mettrie fühlte er sich fast geschützt vor Schatz‐ und
    Kaltammer‐Heimsuchungen. Ihr, dem Mädchen aus North
    Carolina, gestehe er, was er sonst in sich hineinschließe:

Weitere Kostenlose Bücher