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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Aber wieviel Fremdwörter kann
    man sich einverleiben (!), ohne sich innen fremd zu werden?
    Sie will undankbar sein. Das importierte Innen‐Dress
    verbindet sich nicht mit ihr selbst. Seelische Immunreaktion.
    Es wird ihr abverlangt, sich zu unterwerfen, das ist der Preis
    für Schutz und Halt, nur um diesen Preis können die Herren
    väterlich werden und wirken. Seit die von Glen O. angeregte
    Panik in ihr so grassiert, daß sie jede Nacht auflodern und schlafvernichtend weiterlodern kann bis in den Morgen,
    sucht sie im Gedankengespräch mit ihrem German Other
    Schutz, Zuflucht, Bleibe. Das sollte sie nicht. Und wenn sieʹs
    tut, sollte sieʹs ihm nicht auch noch hinreiben. Ihm zu gestehen, wie schwer es ihr fällt, ihm etwas nicht zu
    gestehen! Neben ihrem Bett steht, gerahmt hinter Glas, das Photo von ihrer Graduation. Vassar College. Siebzig Meilen 85
    nördlich von N.Y. Sie zwischen den Fakultätsroben und den
    B.A.ʹs. Sie direkt neben der Vassarpräsidentin Virginia B.
    Smith. Tröstlich dick. Der Zigarettenreklamespruch Virginia slims war immer präsent. 650 B.A.ʹs. Sie, die einzige Magis-terin. In schwarzer Robe. Unterm Magisterhut mit schwarzer
    Quaste. Nach der Zeremonie bemerkte sie, an sich hinunter‐
    schauend, daß sie links einen dunkelblauen Schuh anhatte
    und rechts einen schwarzen. Eigentlich ist das so geblieben.
    Panik vor der nächsten Hürde. Springreiterei forever. Dieses
    Murksen und Placken in der ersehnten sommerlichen
    Einsamkeit. Neid auf die Verreisten. Auf dem Balkon, das Blumenmeer als Ersatz. Madelon redet (beim Essen, im
    Restaurant) ununterbrochen und laut. Der totale southern
    drawl, alle schauen her, ihr egal. Sushi samplers und
    California rolls nimmt sie nicht wahr. Zuletzt gingʹs gegen Freud, weil er den Frauen weniger Über‐Ich zugesteht als den Männern. Themire dachte natürlich sofort daran, daß ihr
    German Other sie des öfteren gern älter hätte. Warum, fragt
    sich Themire. Schreibt sie ihm zu unreifgirliehaft und
    unintellektuell, oder was?! Warum soll sie älter sein? Nur daß sie älter wäre? Ja?! Näher dran an ihm? Oder gehtʹs doch
    um ihre Unentwickeltheit überhaupt? Oder Freudisch: Ihre
    Unentwickelbarkeit überhaupt. Denn: Wieso soll sich eine
    überhaupt entwickeln ohne ein sie andauernd hochpeit‐
    schendes Über‐Ich?! Nicht wahr!
    980 F. 70% Feuchtigkeit. Der Ventilator rauscht. Sie wird sich jetzt doch noch in die Sonne legen. Gestern auch schon.
    Ja‐aa! Die allzu bleiche Haut ist getönt. Bronze. Die Haare heller. Honigblond, sagte einmal Glen O., aber er ist, wie alle
    wissen, farbenblind. Allwissend, aber farbenblind. Und

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    vernichtend freundlich. Dabei bleibt sie. Panic‐stricken. Sie nennt ihre Haarfarbe puddle blond. So sind hier Pfützen
    nach jähem Regen, alles, was zwischen braun und beigegrün
    möglich ist. Morgen, Termin bei Dr. Douglas. Morgen ist
    inzwischen heute. Um 8 Uhr 30 auf die Couch. Nicht einschlafen. Der Kopf nie so leer wie dienstags 8 Uhr 30. Nichts‐
    sagenkönnen ist gleich Schweigen ist gleich Widerstand.
    Und abends ins Bistro mit Jeffrey. Ach, er kennt Jeffrey noch
    nicht. Der hat gelegentlich keuschen Unterschlupf gesucht
    bei ihr, obwohl er, verglichen mit ihr, feudal wohnt. Er hatte
    monatelang die Asche seines Vaters bei sich im Apartment, er sollte sie, im Auftrag der Familie, nachts auf dem Green ausstreuen; der Vater hat hier studiert und lebenslang vom Campus geschwärmt; sie hat Jeffrey, der ängstlich ist,
    geholfen, praktisch hat sie in mondloser Nacht die Alumnus‐
    Asche gestreut; daß ihr German Other weiß, was ein
    Alumnus ist, unterstellt sie, und mit Jeffrey, dem Ängstlichen, ißt sie heute.
    Musik und Mordgedanken. Die Musik (Supremes) extra laut, daß die Sittiche, die sie gerade wieder in Vollpension hat, nicht zu hören sind. Geträumt: Sie beide in einem großen
    Raum, übervoll von Menschen. Sie entfernen sich immer
    mehr von einander, aber sie verständigen sich wortlos, mit den Augen. Jeder weiß genau, was der andere denkt. Kann etwas schöner sein. Jeder denkt das Wort: liebestoll. Geweckt
    von den lärmenden Sittichen. Vergessen gehabt, die Decke
    über den Käfig zu legen, daß das Dunkel die noch eine Zeit
    lang getäuscht hätte. Das hat ihr natürlich, als sie bei ihm im
    Gang über den Morgenlärm der Sittiche gejammert hat, Rick
    Hardy geraten. Er ist nicht wie Glen O. ein Allwissender, 87
    sondern ein Alleswisser. Gottliebs Hände! Nicht ums
    Verrecken liefert

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