Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
kam ihr allerdings Muttersprache vor. Chapel Hill flaggte grün mit gewaltigen Bäumen. Und ließ pflichtgemäß die Staatsblume
    blühen. Dogwood. Sie wird ihm erklären, was ihr der
    geborene South Caroliner Rick erklärt hatte, daß der Gast erführe, wie man sich in einem aufgeklärten Land etwas
    erklärt: Dogwood heißt die Blüte, weil sie nicht genug
    getrauert hat, als am Golgatha‐Freitag Trauer angesagt war,
    und bis in alle Erdenklichkeit muß jedes ihrer weißen Blätter
    das Profil der Nägel zeigen, mit denen Christus gekreuzigt worden ist. Das hat Linné noch nicht gewußt.
    Sie sei zu seiner Zuflucht geworden: Diese Art Mitteilung war die Verführung schlechthin. Daß er sie brauchte, wie sollte sie denn das ertragen, in Ruhe, oder gleichmütig, oder
    sonstwie gefaßt? Wie oft würde sie noch, bevor er käme, die

    108
    Haare waschen, wie oft noch that time of the month durch-stehen, wie oft noch tanken, wie oft noch vor die Klasse treten mit dem Ich‐liebe‐euch‐alle‐Gesicht, wie oft noch Glen
    O. Rosennes Nicht‐Lippen nach einem Lächeln absuchen
    und sich in Patricias kurze Arme flüchten? Wie oft noch sich
    die Hand von Rick zerquetschen lassen, wie oft noch das und
    das, bevor er kommt? Madelon gibtʹs nicht mehr. Madelon
    hat sich verabschiedet. Plötzlich. Keine Dissertation mehr, Freud adieu, fast triumphal, wie sie sich verabschiedet hat.
    Von der Abteilung. Von ihrer Freundin hat sie sich zärtlich verabschiedet. Sie hat geheiratet. Ohne es wissen zu lassen.
    Der Mann ist Louis, der sie so lange hin‐ und herchauffiert hat, bis es ihm und ihr klar wurde, daß es längst unzumutbar
    war, sich weiterhin dem uninterruptible power system des
    Erfinders hinzugeben, weil Louisʹ Augen ein Versprechen
    signalisierten, das ihr einfach lebendiger vorkam als die fein
    kalkulierte Untreue‐Ökonomie des genialen Erfinders.
    Glückliche Madelon. Kein Neid. Tränen schon. Beim Ab‐
    schied hatten dann beide geweint. Und sie hatte herzhaft gesagt, sie komme bald nach. Und Madelon hatte gesagt, daß
    sie Beate J. erwarte. Auf der Insel Trinidad nämlich.
    Daß sie dann, vier Wochen vor dem Tag X, der Nacht Y, auch noch schwarze Unterwäsche gekauft hatte, nahm sich
    Beate übel. Ihn glücklich machen, wie er noch nie war.
    Solches Zeug mußte sie andauernd niederringen, wissend,
    daß jede niedergerungene Schummervision dieser Art die
    nächste produzierte. Seine Erregung spüren. Sie fühlte sich umstellt von Giergespenstern. Halbwegs erträglich fand sie sich erst wieder, wenn sie solche Sätze an sich selbst
    adressieren konnte: So darf man sich einfach keinem Men‐

    109
    schen ausliefern. Wahrscheinlich war es zu spät. Er hatte sicher alles schon erfaßt, bewertet, abgelegt. Seine neuerdings spürbare Angst vor dem 22. März war eine kluge
    Angst. Die Wut wachsen lassen! Ihre einzige Rettung war
    immer ihre Wut gewesen. Wenn die Grenze des Zumutbaren
    deutlich überschritten war ... Am besten wäre es, eine
    objektive Katastrophe verhinderte alles. Natur, Politik,
    Technik ... Aber statt einer Katastrophe, jeden Tag neue Jubelmeldungen über die Blauwale. Daß sie niemanden
    hatte, mit dem sie darüber reden konnte, wie sie nach dem Soundsovielten weiterleben sollte! Daß Madelon jetzt fehlte,
    tat weh. Dafür einmal pro Woche eine Karte aus Port of Spain. Louis hat schon einen Job in einer Fabrik, in der eine
    US‐Gesellschaft Fernsehgeräte zusammensetzen läßt. Sein
    Brian G. Dewey hat ihm nobel bescheinigt, daß er in einem Technologie‐Unternehmen der feineren Art einen erfah-rungsreichen Job gehabt hat. Also machten sie ihn dort sofort
    zum Vorarbeiter. Und Madelon am Independence Square im
    Tourist Board aussichtsreich, die US‐Touristen strömen. Und du? Wenn sie so weitervegetierte, würde sie ihm am zwei-undzwanzigsten mit verquollenen Augen entgegengehen.
    Dann konnte sie das Kosmetikköfferchen gleich daheim
    lassen. Und die Wäsche auch. Und erst recht sich selbst. Sie
    hat noch einen Kimono gekauft. In seinem letzten Brief kam,
    zum ersten Mal, das Wort sehnen vor. Daraus wollte sie sich
    nicht vertreiben lassen. Sie war doch nicht ihr eigener Feind.
    Amour‐propre, bitteschön. Sie war jetzt gierig auf Anzeichen
    der Bedürftigkeit, der Schwäche seinerseits. Sie sollte ihn bergen, schützen, wärmen, retten müssen. Die ganze Welt
    eine Feindseligkeit, und sie, der nackte Engel ... Ach nein, 110
    bitte ... Sie nahm sich vor, ab sofort keine Telephonate

Weitere Kostenlose Bücher