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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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    Stimmungsabbau jeder Art. Zur Ermöglichung eines
    glimpflichen Übergangs vom hemmungslosen Gieren und
    Schwärmen in ein erträgliches reales Visavis. Vielleicht
    sollten sie von jetzt an nur noch La Mettrie behandeln. Ein jäher Briefwechsel über La Mettrie. Das fiel ja zusammen: Sobald er wieder abgereist sein wird, hatte sie ihre drei Kapitel Rohfassung zu liefern. Bei dem Wort Rohfassung
    konnte sie verweilen. Tatsächlich konnte sie sich von
    Gottlieb W. durchaus Brauchbares versprechen. Er arbeitete seit Wochen an dem Vortrag für die Konferenz in Berkeley.
    Jetzt, zwei Wochen vor ihm, war der Text bei ihr
    eingetroffen, daß sie ihn übersetzen konnte. Entsprechen ist alles. So sein Titel. Klang da Shakespeare durch? Entsprechen würde im Englischen abstrakter daherkommen als im
    Deutschen. Im letzten Kapitel ihrer Dissertation würde
    Wendelin Krall dominieren. Daß sie so, wie sie jetzt fühlte, noch nie gefühlt hatte, mußte sie sagen dürfen. Es ging nicht
    darum, ihn glücklich zu machen. Gelogen, eben darum ging
    es doch überhaupt. Wenn ihr das gelänge, würde er sie
    genau so glücklich machen wie sie ihn. Trotzdem, egal, wie
    er ankommen würde, wie er sich dann fühlen würde, sie
    mußte schlicht loswerden, daß sie so, wie sie jetzt fühlte, noch nie gefühlt hatte, daß sie sich also so nicht kannte, also
    unsicher war hinsichtlich ihres Benehmens ihm gegenüber,
    aber daß ihr das auch egal sein würde, sollte er sie doch am
    Arsch lecken oder auch nicht, es muß ein Menschenrecht sein
    zu sagen, wie man im Augenblick fühlt. Basta. Zuerst jetzt der Text. Her mit dem Text. Entsprechen ist alles. Ihr schwebte sofort vor: Rise to the Occasion. Und las.

    111

    I. Es war einmal ein Verbrechen zu sagen, es gebe keinen Gott. Und die, die das sagten, meinten nur, es gebe den Gott
    nicht, der verkündet wurde, gelehrt wurde, an den zu
    glauben Pflicht war, höchste Pflicht. Und wenn es den nicht
    gab, gab es überhaupt keinen. Das war die furchtbare Folge
    der Einschränkung des Gottlieben auf diesen kirchlich
    verschriebenen Mastergott. Und die Philosophie war die
    Magd der Theologie. Primus motor immobilis. So durfte man
    ihn schon nennen. Dann kam La Mettrie, der alles, was
    bisher Gott zugeschrieben worden war, der Natur zuschrieb.
    Der entscheidende Unterschied zwischen Gott und der
    Natur: Die Natur war mit den Sinnen erfahrbar, studierbar, prüfbar. Und soweit sie nicht erkennbar war, durfte sie nicht
    in den Dienst der Erkenntnis genommen werden. Das war
    die Leistung La Mettries: nicht zu spekulieren. Er sagte, welche Vorstellungen von welchen Erfahrungen kommen.
    Religion, Moral und Politik müssen nützen, Philosophie muß
    die Wahrheit sagen. Man hat sich geeinigt. Man hat die
    Sprachgebräuche jahrhundertelang kultiviert zu dem einen
    Ziel: wie kann das, was uns als Religion wichtig geworden ist, so formuliert werden, daß die Vernunft damit leben
    kann. Der studierte Arzt La Mettrie entzieht die Philosophie
    diesem Dienst. Die Philosophie hat es nur mit der Natur zu
    tun. Ihr muß sie entsprechen. Dem, was die Sinne erfahren können, muß sie entsprechen. Dann wird sie, hat er zumindest angedeutet, den Segen, den Religion und Moral stiften,
    nicht nur nicht mindern, sondern vermehren. Er wollte
    keinen Streit. Es liegt in der Sanftmut meines Charakters (la douceur de mon caractére), jeden Streit zu vermeiden, solange es 112
    nicht darum geht, eine Unterhaltung zuzuspitzen. Aber als Arzt, der die Natur erforschte, und als Philosoph, der sich verbot,
    über die Erfahrung hinauszugehen, mußte er formulieren,
    daß es im ganzen Universum nur eine einzige Substanz − in unterschiedlicher Gestalt − gibt. Und diese Substanz, die Materie nämlich, kann empfinden, und das nicht nur im
    Menschen, sondern auch schon im Tier, ja, die Materie ist sogar gewissensfähig.
    Das hat ihm nichts als Hohn und Zorn eingebracht.
    Friedrich II. hat ihn aufgenommen und beschützt, als er zum
    zweiten Mal − diesmal aus Holland − emigrieren mußte.
    Salomon des Nordens hat er seinen Potsdamer Philoso-phenkönig genannt. Er lebe an Friedrichs Hof, hat er
    bezeugt, in einem Paradies für Philosophen. Er hat, so sanft-mütig und lebenslustig er sich fühlte, seine Einsichten immer
    auch mit fröhlicher Schärfe formuliert. Nicht streit‐, sondern
    wahrheitssüchtig. Daß die Materie empfindungs‐ und
    gewissensfähig beziehungsweise daß auch der empfindungs‐
    und gewissensfähige Mensch rein

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