Der Augenblick der Liebe
zuvor.
Aus der Traum.
Im Fußballstadion läuft gerade die Nationalhymne. Sie
100
hörtʹs durchs offene Fenster. Sie erträgt kein geschlossenes Fenster mehr. Weder bei Tag noch bei Nacht. Sie war jetzt stundenlang mit ihren Finger‐ und Zehennägeln beschäftigt.
Wie eine Künstlerin. Vielleicht. Davor, in der Wanne liegend,
hat sie Beine und Achselhöhlen ab‐ und ausgeschabt. Da
fühlt sie sich amerikanisiert. Aber, bitte, keine falschen Vor‐
stellungen: Rot auf Nägeln kann sie jetzt nicht mehr aus-stehen. Nur noch Naturtöne. Vielleicht La Mettries Einfluß.
Natur ist alles. Alles ist nichts als Natur.
Sie wird das Grüngeblümte anziehen, weil er sich das
schon zweimal genau beschreiben ließ. Daß sie die einzige in
der Abteilung ist, die so gut wie nie Hosen trägt, gesteht sie.
Gestern abend Womenʹs Study Group. Dreißig Frauen. Sie
die einzige nicht in Hosen. Findet alle drei Wochen statt.
Feministische Filmtheorie. Bei Einstellungsinterviews wird
nach Filmkursen gefragt. Unter Frauen, unter diesen Frauen,
ist sie weniger self‐conscious als in der Gesellschaft von Männern. Self‐conscious übersetzt sie sich so: sich selbst peinlich sein. Sie hat Männern gestattet zu sagen oder sie gar
eingeladen zu sagen, ihre Hüften könnten schmaler sein, ihre
Brüste bescheidener. Dann hat sie sich mit den Augen dieser
Männer angeschaut. Daß er immer wieder ihre Brüste
erwähnt, sich nach ihren Brüsten erkundigt, als wären das Lebewesen, mit diesen Brüsten alles mögliche anstellen will,
ist für sie Zauber pur.
Sie hat Dr. Douglas den neuesten Traum hingeplaudert,
hingerotzt, gekotzt, zumindest hingetrotzt. Es hat ihr gut-getan, ihm mit diesem Traum seine Grenzen zu zeigen. So wird sie nie von ihm träumen. So träumt sie nur von Gottlieb
W., Herr Doktor. Nämlich: Wieder im Kinderzimmer,
101
Schwester Bettina spielt Karten mit ihrem Mann, dem ost‐
westfälischen Samenhändler, inzwischen umgeschult auf
Programmierer. Beide sitzen an einem kleinen Fenster. Der Schwager fragt, ob sie nicht mitspielen wolle. Ihr Gottlieb W.
lag schon oben, auf dem oberen Bett eines bunk bed, ihr fällt
jetzt der deutsche Ausdruck nicht ein, zwei Betten übereinander, wie manʹs für Kinder hat. Sie legte sich zu ihm. Aber
abgewandt. Sie spürte seine Erregung. Griff nach ihm. Sie hatte Angst, daß die Schwester und deren Mann durch das jetzt entstehende Geräusch alles mitkriegten. Sie fühlte sich unfähig zu allem. Schwester und Schwager sangen Brüderlein, Brüderlein und Schwesterlein. Fledermaus. Gottlieb W. kam völlig ungeniert. Und zwar in ihren Mund. Für Dr. Douglas
repräsentierten die Schwester und ihr Mann die ehrenwerte Gesellschaft jenseits des Atlantik. Als Traum‐Nachgeburt
lieferte sie Dr. Douglas ihre Stimmung beim Erwachen:
März, Gottlieb W. Krall‐Zürn will bleiben, bis er und sie ihre
La Mettrie‐Dissertation durchgesprochen haben. Sie weiß,
daß sie zuviel erwartet. Und erwartet trotzdem weiterhin zu
viel. In dem Samenerguß in ihren Mund sieht Dr. Douglas diese übermäßige Erwartung ausgedrückt. Influence. Sie: Er
hat ihr etwas in den Mund gelegt. Die Einladung des Samen‐
händler‐Programmierer‐Schwagers bezeugt ihre Angst, der
sexuelle Kontakt mit dem ersehnten Mann könne sie voll‐
ends um ihre professionelle Zurechnungsfähigkeit bringen.
Also das Ersehnteste als das Gefährlichste. Er müßte, ehe er
hierherkommt, noch Madwoman in the Attic lesen. Manchmal kommt es ihr vor, als gebe es nichts von dem, was sie sich einbildet. Alles nur ein verzweifeltes Schließen aus diffusen Daten, die auch ganz anders zu deuten wären. Aber gestern
102
hat er fernmündlich ihre Brüste geküßt, das sagt ihr auch jetzt noch, daß es ihn gibt, daß, was sie redeten, im land-läufigen Bezeichnungswesen für Erotisches eingestuft
werden kann als oral sex.
Ihr Kurs muß wegen zu großem Andrang geteilt werden.
Also täglich zweimal. Heute das Formular Employment
Eligibility Verification. Sie hat kein Arbeitsvisum, aber Lehren gehört zum Ph.D.‐Programm. Nach drei Stunden Telephonieren die Auskunft: Die Visumsübertragung von NATO‐2
zu F‐1 dauert vier bis sechs Wochen. Ohne dieses Visum kein
Gehalt mehr. Neue Formulare geholt und ausgefüllt. Sie soll
unterschreiben, in diesem Land nie Arbeit zu suchen. Jane zeigt Mitgefühl. Dann geht die Tür auf, Frederick fragt, ob für seine Frau Evelyn, die genau so weit ist wie Beate,
Weitere Kostenlose Bücher