Der Augenblick der Liebe
Telephonierens und des Briefeschreibens werde sie
benützen, sich von ihm zu trennen, hat sie eher belustigt als
gerührt. Danebenen kann man (wenn er ihr diesen Kom‐
parativ gestattet) nicht treffen. Sie hofft, Magda melde bald,
daß sie wohlbehalten ist. Vielleicht hat sie sogar jemanden getroffen, der sie vergessen ließ, wo sie zu Hause ist oder daß es wißbegierige Eltern gibt. Das wünscht ihr die amerikanische Geistesschwester. Tatsächlich glaubt sie, Magda
näher zu sein als Julia. Julia siegt zu sehr. Ach, nichts ist weniger gefragt als ihre Nähe oder Nichtnähe zu den
Erztöchtern Regina und Magda und Julia und Rosa.
Sonntagmorgen. Bald auch im März. Um nicht über den
März hinausdenken zu müssen, weidet sie den März aus,
fieselt ihn ab, nagt an jeder Minute herum, bis nichts mehr dran ist. Zuerst einmal das nicht enden könnende Frühstück.
Sie, ER und SIE, mit der New York Times. Das all American couple. Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag in San
Francisco und Berkeley. Nur noch für einander. Geliebtester
Mann. Aber wie lange kann er überhaupt bleiben? Solche
illusionsschädigenden Fragen werden nicht gestellt. Am
besten, er ist eines Morgens abgereist, sie siehtʹs, fällt in Ohnmacht und erwacht erst Jahre später aus ihrem Koma,
das allem Gedächtnis den Garaus gemacht hat. Rosig
erwacht sie, im Bergwerk von Chapel Hill. Allen Zeugen ein
Augen‐ und Seelenschmaus. Ihr erstes Wort: La Mettrie.
Worauf sie für eine Französin gehalten wird. Zweites Wort: LʹHomme Machine. Worauf sofort ein paar Roboter herge-rufen werden. Die sollen sich mit ihr beschäftigen. Und so kommt es, daß sich einer der Roboter in sie verliebt, daß sie
heiraten, Kinder zeugen, so schöne, wie sie nur in Misch-106
ehen gezeugt werden. Amen. Den ersten Gewinn aus der
März‐Tagung: Der Professor wird einsehen, daß sie, um aus
der Tagung noch Nutzen zu ziehen, nicht im Januar, sondern
erst im April drei Kapitel Rohfassung abliefern wird.
Eine Art count down setzte ein. Sie wehrte sich. Erfolglos.
Sie hätte es lieber als Weihnachtskalender gehabt. Oder als Kalender eines Gefangenen. Jeder Tag ein durchgestrichener
Strich an der Zellenwand. Dieses Panikgefühl, weil sie ihrem
Ersehnten so gut wie nichts verraten hat von sich. Alles, was
sie ihm geschrieben hat hoch zehn, das käme hin. Das würde
er aber nicht ertragen. Das hält kein Mensch aus, daß sich ein
anderer so abhängig fühlt von ihm. Und das nach
zweieinhalb Stunden Terrasse und ein paar Monaten Brief‐
wechsel und Telephon. Vor San Francisco, im Pacific,
wurden gestern zweihundert Blauwale gesichtet. Das hat sie
sofort als Signal empfunden. Hoffnungsignal. Also sind sie doch nicht ausgestorben, die Blauwale. Das Wunder von San
Francisco! Das heißt, es geschehen noch Wunder! Wenn es
nur so wäre: Er dürfe sich, sagt er, um sich vor der
drohenden Zukunft zu schützen, nicht eingestehen, wie sehr
auch er sie braucht, liebt, ersehnt, begehrt. Das heißt, er sei so schlimmschön dran wie sie. Es darf nur nicht ganz heraus.
Fernmündlich kam manchmal doch ganz schön was
heraus. Manchmal blutete er doch geradezu. Und sie dachte
und konnte es nicht sagen, daß er Hand an sich legen sollte
und denken, es sei ihr Mund. Und wie sie es, ihn her‐
beschwörend, sich selber machte, konnte sie auch nicht sagen. Nichts konnte sie sagen. Was für eine Welt oder Kultur,
in der einem der Mund verschlossen und die Seele vernagelt
ist. Heiliger La Mettrie, du bist nicht schuld daran! Du hast 107
es anders gewollt und gesagt. Aber gesiegt haben die Vor-schriftenmacher! Die Quälgeister. Die großen Quälgeister.
Die beherrschen noch immer die Welt.
Frühlingfrühlingfrühling. So nah war Deutsch ihr noch nie
gegangen. Wenn sie nicht aufpaßte, war sie gleich stolz auf diese Sprache; weil, glaubte sie, Frühling nirgendwo offen-barender, und doch nicht flach werdend, ausgedrückt sein
kann. Frühling, ein schöneres Wort dafür konnte es nirgend‐
wo geben. Sie liebte Wörter, die etwas eindeutig offenbarten,
ohne daß sie das, was sie offenbarten, aussagten. Eine Zeit lang muß es Dichter gegeben haben wie Sand am Meer. Ganz
genau wie Sand am Meer. Selbst als das Wort Behörde geschaffen wurde, waren noch Dichter am Werk. Nicht mehr
bei Beschuldigung, Charakterlosigkeit, Sittenverfall, Pflichtver-letzung, Selbstmord und dergleichen. Wohl aber bei Frühling.
Und bei fernmündlich natürlich. Nur halb geglückt
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