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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Telephonierens und des Briefeschreibens werde sie
    benützen, sich von ihm zu trennen, hat sie eher belustigt als
    gerührt. Danebenen kann man (wenn er ihr diesen Kom‐
    parativ gestattet) nicht treffen. Sie hofft, Magda melde bald,
    daß sie wohlbehalten ist. Vielleicht hat sie sogar jemanden getroffen, der sie vergessen ließ, wo sie zu Hause ist oder daß es wißbegierige Eltern gibt. Das wünscht ihr die amerikanische Geistesschwester. Tatsächlich glaubt sie, Magda
    näher zu sein als Julia. Julia siegt zu sehr. Ach, nichts ist weniger gefragt als ihre Nähe oder Nichtnähe zu den
    Erztöchtern Regina und Magda und Julia und Rosa.
    Sonntagmorgen. Bald auch im März. Um nicht über den
    März hinausdenken zu müssen, weidet sie den März aus,
    fieselt ihn ab, nagt an jeder Minute herum, bis nichts mehr dran ist. Zuerst einmal das nicht enden könnende Frühstück.
    Sie, ER und SIE, mit der New York Times. Das all American couple. Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag in San
    Francisco und Berkeley. Nur noch für einander. Geliebtester
    Mann. Aber wie lange kann er überhaupt bleiben? Solche
    illusionsschädigenden Fragen werden nicht gestellt. Am
    besten, er ist eines Morgens abgereist, sie siehtʹs, fällt in Ohnmacht und erwacht erst Jahre später aus ihrem Koma,
    das allem Gedächtnis den Garaus gemacht hat. Rosig
    erwacht sie, im Bergwerk von Chapel Hill. Allen Zeugen ein
    Augen‐ und Seelenschmaus. Ihr erstes Wort: La Mettrie.
    Worauf sie für eine Französin gehalten wird. Zweites Wort: LʹHomme Machine. Worauf sofort ein paar Roboter herge-rufen werden. Die sollen sich mit ihr beschäftigen. Und so kommt es, daß sich einer der Roboter in sie verliebt, daß sie
    heiraten, Kinder zeugen, so schöne, wie sie nur in Misch-106
    ehen gezeugt werden. Amen. Den ersten Gewinn aus der
    März‐Tagung: Der Professor wird einsehen, daß sie, um aus
    der Tagung noch Nutzen zu ziehen, nicht im Januar, sondern
    erst im April drei Kapitel Rohfassung abliefern wird.
    Eine Art count down setzte ein. Sie wehrte sich. Erfolglos.
    Sie hätte es lieber als Weihnachtskalender gehabt. Oder als Kalender eines Gefangenen. Jeder Tag ein durchgestrichener
    Strich an der Zellenwand. Dieses Panikgefühl, weil sie ihrem
    Ersehnten so gut wie nichts verraten hat von sich. Alles, was
    sie ihm geschrieben hat hoch zehn, das käme hin. Das würde
    er aber nicht ertragen. Das hält kein Mensch aus, daß sich ein
    anderer so abhängig fühlt von ihm. Und das nach
    zweieinhalb Stunden Terrasse und ein paar Monaten Brief‐
    wechsel und Telephon. Vor San Francisco, im Pacific,
    wurden gestern zweihundert Blauwale gesichtet. Das hat sie
    sofort als Signal empfunden. Hoffnungsignal. Also sind sie doch nicht ausgestorben, die Blauwale. Das Wunder von San
    Francisco! Das heißt, es geschehen noch Wunder! Wenn es
    nur so wäre: Er dürfe sich, sagt er, um sich vor der
    drohenden Zukunft zu schützen, nicht eingestehen, wie sehr
    auch er sie braucht, liebt, ersehnt, begehrt. Das heißt, er sei so schlimmschön dran wie sie. Es darf nur nicht ganz heraus.
    Fernmündlich kam manchmal doch ganz schön was
    heraus. Manchmal blutete er doch geradezu. Und sie dachte
    und konnte es nicht sagen, daß er Hand an sich legen sollte
    und denken, es sei ihr Mund. Und wie sie es, ihn her‐
    beschwörend, sich selber machte, konnte sie auch nicht sagen. Nichts konnte sie sagen. Was für eine Welt oder Kultur,
    in der einem der Mund verschlossen und die Seele vernagelt
    ist. Heiliger La Mettrie, du bist nicht schuld daran! Du hast 107
    es anders gewollt und gesagt. Aber gesiegt haben die Vor-schriftenmacher! Die Quälgeister. Die großen Quälgeister.
    Die beherrschen noch immer die Welt.
    Frühlingfrühlingfrühling. So nah war Deutsch ihr noch nie
    gegangen. Wenn sie nicht aufpaßte, war sie gleich stolz auf diese Sprache; weil, glaubte sie, Frühling nirgendwo offen-barender, und doch nicht flach werdend, ausgedrückt sein
    kann. Frühling, ein schöneres Wort dafür konnte es nirgend‐
    wo geben. Sie liebte Wörter, die etwas eindeutig offenbarten,
    ohne daß sie das, was sie offenbarten, aussagten. Eine Zeit lang muß es Dichter gegeben haben wie Sand am Meer. Ganz
    genau wie Sand am Meer. Selbst als das Wort Behörde geschaffen wurde, waren noch Dichter am Werk. Nicht mehr
    bei Beschuldigung, Charakterlosigkeit, Sittenverfall, Pflichtver-letzung, Selbstmord und dergleichen. Wohl aber bei Frühling.
    Und bei fernmündlich natürlich. Nur halb geglückt

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