Der Augenblick der Liebe
fühlte, noch nie gefühlt hatte, mußte sie sagen dürfen. Es ging nicht darum, ihn glücklich zu machen. Gelogen, eben darum ging es doch überhaupt. Wenn ihr das gelänge, würde er sie genau so glücklich machen wie sie ihn. Trotzdem, egal, wie er ankommen würde, wie er sich dann fühlen würde, sie mußte schlicht loswerden, daß sie so, wie sie jetzt fühlte, noch nie gefühlt hatte, daß sie sich also so nicht kannte, also unsicher war hinsichtlich ihres Benehmens ihm gegenüber, aber daß ihr das auch egal sein würde, sollte er sie doch am Arsch lecken oder auch nicht, es muß ein Menschenrecht sein zu sagen, wie man im Augenblick fühlt. Basta. Zuerst jetzt der Text. Her mit dem Text. Entsprechen ist alles. Ihr schwebte sofort vor: Rise to the Occasion. Und las.
I. Es war einmal ein Verbrechen zu sagen, es gebe keinen Gott. Und die, die das sagten, meinten nur, es gebe den Gott nicht, der verkündet wurde, gelehrt wurde, an den zu glauben Pflicht war, höchste Pflicht. Und wenn es den nicht gab, gab es überhaupt keinen. Das war die furchtbare Folge der Einschränkung des Gottlieben auf diesen kirchlich verschriebenen Mastergott. Und die Philosophie war die Magd der Theologie. Primus motor immobilis. So durfte man ihn schon nennen. Dann kam La Mettrie, der alles, was bisher Gott zugeschrieben worden war, der Natur zuschrieb. Der entscheidende Unterschied zwischen Gott und der Natur: Die Natur war mit den Sinnen erfahrbar, studierbar, prüfbar. Und soweit sie nicht erkennbar war, durfte sie nicht in den Dienst der Erkenntnis genommen werden. Das war die Leistung La Mettries: nicht zu spekulieren. Er sagte, welche Vorstellungen von welchen Erfahrungen kommen. Religion, Moral und Politik müssen nützen, Philosophie muß die Wahrheit sagen. Man hat sich geeinigt. Man hat die Sprachgebräuche jahrhundertelang kultiviert zu dem einen Ziel: wie kann das, was uns als Religion wichtig geworden ist, so formuliert werden, daß die Vernunft damit leben kann. Der studierte Arzt La Mettrie entzieht die Philosophie diesem Dienst. Die Philosophie hat es nur mit der Natur zu tun. Ihr muß sie entsprechen. Dem, was die Sinne erfahren können, muß sie entsprechen. Dann wird sie, hat er zumin dest angedeutet, den Segen, den Religion und Moral stiften, nicht nur nicht mindern, sondern vermehren. Er wollte keinen Streit. Es liegt in der Sanftmut meines Charakters (la douceur de mon caractére), jeden Streit zu vermeiden, solange es nicht darum geht, eine Unterhaltung zuzuspitzen. Aber als Arzt, der die Natur erforschte, und als Philosoph, der sich verbot, über die Erfahrung hinauszugehen, mußte er formulieren, daß es im ganzen Universum nur eine einzige Substanz − in unterschiedlicher Gestalt − gibt. Und diese Substanz, die Materie nämlich, kann empfinden, und das nicht nur im Menschen, sondern auch schon im Tier, ja, die Materie ist sogar gewissensfähig.
Das hat ihm nichts als Hohn und Zorn eingebracht. Friedrich II. hat ihn aufgenommen und beschützt, als er zum zweiten Mal − diesmal aus Holland − emigrieren mußte. Salomon des Nordens hat er seinen Potsdamer Philoso phenkönig genannt. Er lebe an Friedrichs Hof, hat er bezeugt, in einem Paradies für Philosophen. Er hat, so sanft mütig und lebenslustig er sich fühlte, seine Einsichten immer auch mit fröhlicher Schärfe formuliert. Nicht streit, sondern wahrheitssüchtig. Daß die Materie empfindungs und gewissensfähig beziehungsweise daß auch der empfindungs und gewissensfähige Mensch rein stofflicher Natur sei, das
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