Der Augenblick der Liebe
wollte, hat durchgesetzt, daß sie bleiben kann.
Das Ticket nach San Francisco liegt vor ihr auf dem Tisch. Billigflug. Daß er jetzt vorsorglich sein Alter grell beleuchtet, findet sie sowohl lustig wie auch lieb. Männer stehen doch zu ihrem Äußeren, egal, wie alt sie sind. Sie war zwei Jahre mit einem Mann zusammen, dem es bei einem Autounfall die Kopfhaut verbrannt hatte, der ein dezentes Haarteil trug, das sie erst als solches erkannte, als sie von anderen darauf aufmerksam gemacht wurde. Genügt ihm das?
Ob er ahnt, daß es Wörter gibt, mit denen sie noch nie bedacht wurde. Liebes nennt er sie. So hat sie noch niemand genannt. Und sie mußte nicht lachen. Daß seine Wörter einen Oberton haben, der aufs zarteste komisch ist, muß er ahnen. Daß er solche Wörter trotzdem benützt, offenbar nicht anders kann, als sie zu benützen, das geht ihr durch und durch. Daß er gefürchtet hat, die durch Magdas unerklär liches Verschwinden entstandene achttägige Unterbrechung des Telephonierens und des Briefeschreibens werde sie benützen, sich von ihm zu trennen, hat sie eher belustigt als gerührt. Danebenen kann man (wenn er ihr diesen Kom parativ gestattet) nicht treffen. Sie hofft, Magda melde bald, daß sie wohlbehalten ist. Vielleicht hat sie sogar jemanden getroffen, der sie vergessen ließ, wo sie zu Hause ist oder daß es wißbegierige Eltern gibt. Das wünscht ihr die ameri kanische Geistesschwester. Tatsächlich glaubt sie, Magda näher zu sein als Julia. Julia siegt zu sehr. Ach, nichts ist weniger gefragt als ihre Nähe oder Nichtnähe zu den Erztöchtern Regina und Magda und Julia und Rosa. Sonntagmorgen. Bald auch im März. Um nicht über den März hinausdenken zu müssen, weidet sie den März aus, fieselt ihn ab, nagt an jeder Minute herum, bis nichts mehr dran ist. Zuerst einmal das nicht enden könnende Frühstück. Sie, ER und SIE , mit der New York Times. Das all American couple. Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag in San Francisco und Berkeley. Nur noch für einander. Geliebtester Mann. Aber wie lange kann er überhaupt bleiben? Solche illusionsschädigenden Fragen werden nicht gestellt. Am besten, er ist eines Morgens abgereist, sie sieht¹s, fällt in Ohnmacht und erwacht erst Jahre später aus ihrem Koma, das allem Gedächtnis den Garaus gemacht hat. Rosig erwacht sie, im Bergwerk von Chapel Hill. Allen Zeugen ein Augen und Seelenschmaus. Ihr erstes Wort: La Mettrie. Worauf sie für eine Französin gehalten wird. Zweites Wort: L¹Homme Machine. Worauf sofort ein paar Roboter herge rufen werden. Die sollen sich mit ihr beschäftigen. Und so kommt es, daß sich einer der Roboter in sie verliebt, daß sie heiraten, Kinder zeugen, so schöne, wie sie nur in Misch ehen gezeugt werden. Amen. Den ersten Gewinn aus der MärzTagung: Der Professor wird einsehen, daß sie, um aus der Tagung noch Nutzen zu ziehen, nicht im Januar, sondern erst im April drei Kapitel Rohfassung abliefern wird.
Eine Art count down setzte ein. Sie wehrte sich. Erfolglos. Sie hätte es lieber als Weihnachtskalender gehabt. Oder als Kalender eines Gefangenen. Jeder Tag ein durchgestrichener Strich an der Zellenwand. Dieses Panikgefühl, weil sie ihrem Ersehnten so gut wie nichts verraten hat von sich. Alles, was sie ihm geschrieben hat hoch zehn, das käme hin. Das würde er aber nicht ertragen. Das hält kein Mensch aus, daß sich ein anderer so abhängig fühlt von ihm. Und das nach zweieinhalb Stunden Terrasse und ein paar Monaten Brief wechsel und Telephon. Vor San Francisco, im Pacific,
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