Der Augenblick der Liebe
verzieh ihm weder die Kirche noch die Universität.
Inzwischen haben die Naturwissenschaften das Sagen, wenn unterschieden werden soll zwischen unbelebter Ma terie und Lebewesen. Zirka zwei Milliarden Jahre lang seien sich, heißt es jetzt, Nukleinsäuren und Proteine begegnet, ohne daß eine Zelle entstanden wäre, die lebend genannt werden könne, also eine Zelle, die aus ihrer Umwelt die Energie entnimmt, die sie zu ihrer Reduplikation bezie hungsweise Fortpflanzung braucht. Also zwei Milliarden jahre lang keine Evolution, kein Kampf ums Dasein. Vom ersten Einzeller bis zum heutigen Menschen dauerte es dann nur noch eine Milliarde Jahre. Und dieser Mensch wird jetzt erklärt mit einem genetischen Code. Das ist ein Über setzungsschlüssel, der angibt, welche Nukleinsäureschrift welcher Proteinschrift jeweils entspricht. Die Sprache der Naturwissenschaft kann uns Nichtnaturwissenschaftlern diese Vorgänge nicht ohne Vergleiche näherbringen, die nicht mehr rein wissenschaftlich sind. Leben habe nur ent stehen können aus einer Arbeitsteilung zwischen Proteinen und Nukleinsäuren, die Zufälle zuließ; die Zufälle heißen in der für uns bestimmten Sprache Ablesefehler, entstanden bei der Codierung der Proteinbausteine durch die Nukleinsäure sequenzen. Und, heißt es, es bedurfte ungeheuerlicher Zufälligkeiten, daß sich der genetische Code durchsetzen konnte, der jetzt auf diesem Planet bei allen Lebewesen maßgebend ist. Und das ist das, was La Mettrie l¹organisation genannt hat. Manfred Eigen hat es genannt das Problem der Selbstorganisation von Makromolekülen zu autoka talytischen Hyperzyklen. Das ist die neueste Sprache für die Erfahrung, daß die Natur alles enthält, was wir sind. Zwei Milliarden Jahre lang folgenlose Begegnung zwischen Nukleinsäuresequenzen und Proteinbausteinen, dann kommt es zu einer Kombination, zu kombinierten Kreisen aus DNA Molekülen und Proteinmolekülen, diese Kreise werden als höhere Gebilde geführt. Reine DNA Gebilde konnten nur stagnieren. Hyperzyklen nennt Manfred Eigen diese kombinierten Kreise; die Nukleinsäuren seien sozu sagen die Legislative, die Proteine die Exekutive bei diesem Prozess, der jetzt einsetzte und der eben durch weitere Zufäl le Mutanten hervorbrachte, die mit einander um das Über leben konkurrierten. Der Zufall, der letzten Endes zum einzelligen Lebewesen geführt habe, sei so ungeheuerlich, so ganz und gar nicht erwartbar gewesen − dieser Zufall, dem wir letzten Endes entstammen −, daß auch unter Natur wissenschaftlern wieder eine Art Gottliebe Mitwirkung gedacht werden konnte. Gott als der geduldigste Experi mentalphysiker, dem es nach drei Milliarden Jahren gelingt, ein Wesen zu produzieren, dem er beibringen kann (durch Offenbarung), ihn anzubeten. Aber auch diese frömmeren Physiker können den universellen genetischen Code nicht mehr außer Kraft setzen. Und wie hat es La Mettrie gesagt: Man sieht, daß es im Universum nur eine Substanz gibt und daß der Mensch die vollkommenste ist. Daß alles aus Nukleinsäure sequenzen und Proteinketten entstanden ist, hat La Mettrie in der auf Bilder angewiesenen Sprache so sagen müssen: Der Mensch ist aus keinem wertvolleren Lehm geknetet; die Natur hat nur ein und denselben Teig verwendet, bei dem sie lediglich die Hefezusätze verändert hat.
Jeder Satz über La Mettrie, der im Allgemeinen endet, verfehlt ihn. Er beschreibt die Wohlgefühle, die der Geist dem Körper bereiten kann und begründet: ... denn ohne Zweifel zirkulieren dessen Säfte besser, wenn die Seele in ausge zeichneter Verfassung ist. Das ist Psychosomatisches, 1748. Wäre es nicht
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