Der Augenblick der Liebe
dem Wort kaum mitgeben. Und zum Seelischen steht da, daß also die Seele sich bildet, wie der Körper sich organisiert. Also: daß die Seele jeweils dem Körperlichen entspricht. Und deshalb sah eben ein La Mettrie das Organische als das, von dem die Entwicklung der Seele bestimmt wird.
Ein solches Angebot war keinem deutschen Denker je beschieden. Unsere Sprache lebte, wie es La Mettrie einmal aus der deutschen Philosophie zitierte, von der symbolischen Erkenntnis. Er aber lebte von der durch die Sinne, durch die Erfahrung, durch das medizinische Studium genährten Erkenntnis, was eben heißt: wenn die Philosophie noch eine Magd war, dann nicht mehr die der Theologie, sondern die der Natur. Alle Fähigkeiten der Seele seien abhängig de la propre Organisation du Cerveau et de Wut le Corps, qu¹elles ne sont visiblement que cette Organisation même. Voilá une Machine bien éclairée! Übersetzt wird: Da aber alle Fähigkeiten der Seele so sehr von dem eigentümlichen Bau des Gehirns und des ganzen Körpers abhängen, daß sie offensichtlich nur dieser organische Bau selbst sind, so haben wir es mit einer gut erleuchteten Maschine zu tun. Daß die Seele nichts ist als die Organisation selbst, diese Seinsintimität ist der deutschen Sprache offensichtlich nicht zumutbar. Wenn La Mettrie Materie des Höchsten für fähig hält, nämlich der Gewissensregung, ruft er geradezu aus: L¹Organisation suffiroitelle donc á tout? Oui, encore une fois. Und wieder kann das Deutsche nur hinkend folgen. Sollte der organische Bau allem genügen? Noch einmal Ja.
Der Übersetzer und Herausgeber Bernd A. Laska ist, soweit ich sehe, der einzige, der gewagt hat, l¹Organisation Organi sation sein zu lassen. Mit eindeutschender Umständlichkeit wäre La Mettries letzte große Schrift, der AntiSeneca, nicht zu übersetzen gewesen. Das Glück, das aus unserer Organisa tion stammt, ist das beständigste und am schwersten zu erschüt ternde. Oder über die Erziehung: Alte Prägungen sind schnell einmal vergessen. «Maschinenmäßig» gewinnt dann die Organi sation zurück, was die Erziehung ihr geraubt zu haben schien, so als ob die Formung nach einem Ideal eine Verformung gewesen wäre. Hier denkt man bei maschinenmäßig automatisch an automatisch beziehungsweise von selbst. Wenn es einem Übersetzer erlaubt wäre, ein Wort nur auf seine Bedeutung hin zu übersetzen, dann wäre L¹Organisation am vollstän digsten mit Natur zu übersetzen.
Manfred Eigen, der gedankenreiche und sprachbewußte Physiker, hat, als er die Zusammenwirkung von Nuklein säuremolekülen mit Proteinmolekülen bei der Entstehung des Lebens beschrieb, formuliert, daß die Selbstorganisa tionsfähigkeit der Materie bisher eher unter als überschätzt wurde. La Mettrie war nicht der erste und nicht der letzte, der das Organische beziehungsweise die Natur zur Bedingung für alles machte. Es gab vor ihm Spinoza, der alles, was La Mettrie erlebte und beschrieb, schon systematisch entwickelt hatte − die materielle Einheit der Welt bis zur empfin dungsfähigen Materie −, und er hat dafür genug Feindseligkeit geerntet; aber er hat offenbar die Erfahrung, daß die Materie fähig ist zu empfinden, nicht aus seinem eigenen Körper und dessen Bedürfnissen und Ansprüchen abgeleitet. Er hat der Natur Gottlieben Rang erobert. Aber um sie so zu erhöhen, brauchte er doch noch Gott. Den braucht La Mettrie nicht mehr. Ohne Gott aktiv zu leugnen, entwickelt er eine vor Freude und Farben strahlende Welt an diesem Mastergott vorbei: Deshalb konnte Lessing, der La Mettrie als Pornoschriftsteller verachtete, sagen:
Weitere Kostenlose Bücher