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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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furchtbar  nüchtern  und  vielleicht  auch  erschreckend  sachlich  nach  dem  Nutzen  der  remords.  Sie  nützen  nichts.  Sie verhindern nichts. Weder vor, noch während, noch nach  dem Verbrechen. Von den remords geplagt werden ohnehin  nicht die Bösen, sondern die Guten. Man kann sagen, er habe  die Kritik des schlechten Gewissens geschrieben. Diese Kritik  war für ihn das, was er für die Menschheit tun konnte. Sein  größtmögliches  Verdienst.  Also  mit  Seitensprungerleich terung  darf  das  nicht  abgetan  werden.  Und  jetzt  kommt  einer  hierher,  der  erkannt  hat:  Wer  nur  ÜBER   La  Mettrie  schreibt,  ohne  dabei  über  sich  zu  schreiben,  der  entspricht  ihm  nicht.  Also  folgt  er  dem  von  Montaigne  stammenden,  durch  La  Mettrie  überbrachten  Rat  und  macht  sich  selbst,  auch  sich  selbst,  zum  Thema.  Dann  erfährt  er  hier  in  Kali fornien,  daß  ein  Deutscher  immer  zuerst  ein  Deutscher  ist  und  erst  dann  ein  Mensch.  Zu  Hause  ist  er  zuerst  ein  Mensch,  so  und  so  alt  und  ein  Mann.  Hier  ist  er  offenbar  zuerst  ein  Deutscher.  La  Mettrie  hat  seine  Gewissenskritik  nicht  für  eine  Gesellschaft  geschrieben,  die  sich  gerade  in  einen  Völkermord  verstrickt  hat.  Aber  er  hätte  wahr scheinlich  in  seiner  furchtbaren  Nüchternheit,  in  der  Be schreibung dessen, was das menschliche Gewissen zu leisten  vermag, er hätte seine Gewissenskritik nicht von Grund auf  anders  geschrieben.  Aber  zweifellos  kann  ein  Deutscher  davon keinen sein Gewissen entlastenden Gebrauch machen.  Das  war  auch  nicht  im  mindesten  die  Absicht  des  Referenten. Obwohl der Sachlage nach nicht ausgeschlossen  werden kann, daß ein deutscher Referent die La Mettriesche  Gewissenskritik auf den Fall Deutschland anwenden könnte.  Vielleicht  darf  erwähnt  werden,  daß  dem  Deutschen  Gedächtnis zu einem Synonym für Gewissen geworden ist. 
Der  Referent  hat  sich  als  einen  Gefangenen  seines  Ge wissens gesehen und ist nach Kalifornien geflogen, um hier  zu  bekunden,  daß  von  La  Mettrie  eine  Befreiungskraft  ausgehe. Und, hat er gedacht, kein Land der Welt eigne sich  so  gut  wie  Amerika,  diese  Befreiungskraft  zu  feiern  und  nicht  bloß  zu  feiern,  sondern  sie  ganz  praktisch  wirken  zu  lassen, ganz praktisch, hier und jetzt. Wie das dann aussähe,  muß  jeder  Tagungsteilnehmer  für  sich  entscheiden.  Dem  Referenten hätte es genügt, wenn er ein wenig hätte erlebbar  machen  können,  wie  La  Mettrie  in  sein  Leben  eingegriffen  habe.  La  Mettrie  plus  Amerika,  das  hat  sich  im  Referenten  aufgeladen  zur  Befreiungshoffnung  schlechthin.  Leider  hat  er  dabei  einfach  übersehen,  daß  ein  Deutscher  alles,  was  er  denkt  und  sagt,  zuerst  daraufhin  überprüfen  muß,  wie  es,  von  einem  Deutschen  gesagt,  wirkt.  Daß  der  Referent  diese  Selbstüberprüfung versäumt hat, war ein furchtbarer Fehler.  Den bedauert er sehr. Er hätte bedenken müssen, daß er im  Ausland spricht. In den USA! Er bittet die Versammlung um  Entschuldigung. Und er hofft, er habe gelernt, spät genug ge lernt, aber doch noch gelernt, er als Deutscher, vor allem im  Ausland,  hat  immer  daran  zu  denken,  daß  er  zuerst  ein  Deutscher ist und erst dann, falls sein EinDeutschersein das  noch zuläßt, erst dann ein Mensch. 
Eher  zaghafter,  aber  aus  ein  paar  hinteren  Reihen  dann  doch  deutlicher  Beifall.  Gottlieb  schaute  nicht  hin.  Er  be dankte  sich,  immer  noch  flüsternd,  bei  seiner  Übersetzerin.  Das  ergab  einen  allgemeinen,  sogar  heftigen  Beifall.  Beate  verneigte  sich.  Rick  Hardy,  der  während  Gottliebs  Erwi derung deutlich geduldig auf dem Podium stehen geblieben  war,  übernahm  die  Leitung  der  jetzt  einsetzenden  Diskus sion.  Gottlieb  setzte  sich  auf  seinen  Platz,  Beate  auf  ihren. 

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