Der Augenblick der Liebe
furchtbar nüchtern und vielleicht auch erschreckend sachlich nach dem Nutzen der remords. Sie nützen nichts. Sie verhindern nichts. Weder vor, noch während, noch nach dem Verbrechen. Von den remords geplagt werden ohnehin nicht die Bösen, sondern die Guten. Man kann sagen, er habe die Kritik des schlechten Gewissens geschrieben. Diese Kritik war für ihn das, was er für die Menschheit tun konnte. Sein größtmögliches Verdienst. Also mit Seitensprungerleich terung darf das nicht abgetan werden. Und jetzt kommt einer hierher, der erkannt hat: Wer nur ÜBER La Mettrie schreibt, ohne dabei über sich zu schreiben, der entspricht ihm nicht. Also folgt er dem von Montaigne stammenden, durch La Mettrie überbrachten Rat und macht sich selbst, auch sich selbst, zum Thema. Dann erfährt er hier in Kali fornien, daß ein Deutscher immer zuerst ein Deutscher ist und erst dann ein Mensch. Zu Hause ist er zuerst ein Mensch, so und so alt und ein Mann. Hier ist er offenbar zuerst ein Deutscher. La Mettrie hat seine Gewissenskritik nicht für eine Gesellschaft geschrieben, die sich gerade in einen Völkermord verstrickt hat. Aber er hätte wahr scheinlich in seiner furchtbaren Nüchternheit, in der Be schreibung dessen, was das menschliche Gewissen zu leisten vermag, er hätte seine Gewissenskritik nicht von Grund auf anders geschrieben. Aber zweifellos kann ein Deutscher davon keinen sein Gewissen entlastenden Gebrauch machen. Das war auch nicht im mindesten die Absicht des Referenten. Obwohl der Sachlage nach nicht ausgeschlossen werden kann, daß ein deutscher Referent die La Mettriesche Gewissenskritik auf den Fall Deutschland anwenden könnte. Vielleicht darf erwähnt werden, daß dem Deutschen Gedächtnis zu einem Synonym für Gewissen geworden ist.
Der Referent hat sich als einen Gefangenen seines Ge wissens gesehen und ist nach Kalifornien geflogen, um hier zu bekunden, daß von La Mettrie eine Befreiungskraft ausgehe. Und, hat er gedacht, kein Land der Welt eigne sich so gut wie Amerika, diese Befreiungskraft zu feiern und nicht bloß zu feiern, sondern sie ganz praktisch wirken zu lassen, ganz praktisch, hier und jetzt. Wie das dann aussähe, muß jeder Tagungsteilnehmer für sich entscheiden. Dem Referenten hätte es genügt, wenn er ein wenig hätte erlebbar machen können, wie La Mettrie in sein Leben eingegriffen habe. La Mettrie plus Amerika, das hat sich im Referenten aufgeladen zur Befreiungshoffnung schlechthin. Leider hat er dabei einfach übersehen, daß ein Deutscher alles, was er denkt und sagt, zuerst daraufhin überprüfen muß, wie es, von einem Deutschen gesagt, wirkt. Daß der Referent diese Selbstüberprüfung versäumt hat, war ein furchtbarer Fehler. Den bedauert er sehr. Er hätte bedenken müssen, daß er im Ausland spricht. In den USA! Er bittet die Versammlung um Entschuldigung. Und er hofft, er habe gelernt, spät genug ge lernt, aber doch noch gelernt, er als Deutscher, vor allem im Ausland, hat immer daran zu denken, daß er zuerst ein Deutscher ist und erst dann, falls sein EinDeutschersein das noch zuläßt, erst dann ein Mensch.
Eher zaghafter, aber aus ein paar hinteren Reihen dann doch deutlicher Beifall. Gottlieb schaute nicht hin. Er be dankte sich, immer noch flüsternd, bei seiner Übersetzerin. Das ergab einen allgemeinen, sogar heftigen Beifall. Beate verneigte sich. Rick Hardy, der während Gottliebs Erwi derung deutlich geduldig auf dem Podium stehen geblieben war, übernahm die Leitung der jetzt einsetzenden Diskus sion. Gottlieb setzte sich auf seinen Platz, Beate auf ihren.
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