Der Augenblick der Liebe
Gottlieb konnte nicht mehr folgen. Er kriegte mit, daß hinten ein paar Frauenstimmen für ihn sprachen und daß die Mehrheit dann diese Sympathisantinnen eines Besseren zu belehren suchte: moralisch, politisch, philosophisch. Es ging um die Wörter. Guilt, debt, selfreproach, bad conscience, hypocrisy. Gottlieb war nicht mehr gefragt, das kriegte er mit. Denen, die ihn verteidigen wollten, konnte er nicht helfen. Beate beteiligte sich auch nicht. Seine Verteidi erinnen, das hörte er, ohne sich umzudrehen, mußten ältere Damen sein; eine wies darauf hin, daß sie aus einer Familie von Holocaustüberlebenden stamme. Es wurde ihr gesagt, es sei ihre Sache, ganz und gar ihre Privatsache, wenn sie sich mit einem deutschen Entlastungsmanöver dieser Art befreunden könne, kein Mensch könne ihr daraus einen Vorwurf machen, solange sie nicht versuche, ihrer Privat sache universale Gültigkeit zu erstreiten. Rick Hardy hatte so gut wie nichts mehr zu tun, so gut lief die Diskussion. Dann und wann mußte er sagen: Keep your remarks brief, und schließlich: Die Kaffeepause sei ein MUST , also noch eine letzte Wortmeldung. Die kam von Patricia Best. Sie stand auf, sprach ebenso zu Gottlieb wie zum Saal. Die kleine, eher rundliche Person wuchs mit jedem Wort. Sie wuchs wirklich. Sie sprach nicht einmal besonders laut. Mußte sie auch nicht. Ihre hohe, eigentlich sehr hohe Stimme schwebte über dem ganzen Saal. Das sah man. Gottlieb hatte tatsächlich den Eindruck, als wüchsen auch die Zuhörer. Alle Hälse wurden lang, alle Köpfe hoben sich. I liked your speech. So begann sie. Dann sagte sie, daß auch heute noch das Gewissen eines jeden Menschen von der Religion gebildet werde, in der er aufwachse. Das Gewissen sei das Kostbarste, was unsere Kindheit in jedem von uns lebendig erhalte. Und, bitte, der Atheismus sei ja nichts anderes als eine Religion, die sich zutraue, ohne Gott auszukommen. Tatsächlich sei jede praktizierte, gar herrschende Religion in Gefahr, das kostbare Kindheitsgut Gewissen zur Rezeptur verkommen zu lassen. Daß die Philosophie darauf kritisch zu reagieren habe, verstehe sich inzwischen von selbst. La Mettrie habe das getan. Einzigartig. Großartig. Nachträglich seiner Gewissenskritik Reservate anzuweisen, in denen allein sie angewendet werden dürfe, komme ihr vor wie freiwillige Kurzsichtigkeit, die gebe es aber in der Natur nicht, und die Wissenschaft sollte nicht versuchen, gerade darin die Natur zu korrigieren. Dann wolle sie, müsse und könne sie dem Herrn Referenten versichern, daß das Problem der Transzendenz vom Deutschen zum Menschen ganz und gar nicht nur sein Problem ist. Solange es noch Nationen gibt, und es wird sie ganz sicher nicht ewig geben, muß es und wird es diese Einladung zur Überwindung des nur Angebo renen geben. Die herzliche Theatralik mit der der Referent den Emanzipationskitzel vor uns ausgelebt hat, hat mich gerührt.
Aus verschiedenen Saalquartieren heftiger Beifall. Aber da und dort gab es auch Zischen.
Rick Hardy übernahm: Er sei immer wieder glücklich, wenn er Patricia Best in ihrer sibyllinischen Laune erlebe. Und lachte. Vielen Dank, Patricia!
Jetzt Professor Rosenne. Er sei auch glücklich über diesen Anfang der Tagung. Daß La Mettrie immer noch ein Unruhe stifter sei, mache ihn glücklich. Gestern Abend habe er drüben in San Francisco in Chinatown Abend gegessen. Die Chinesen lieferten ja zu jedem Dinner ein Cookie, ein fortune Cookie, das man, wenn man Sprachliches nicht wegwerfen kann, einstecke, in der Hoffnung, eine Situation zu erleben, in die der Spruch
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