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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Gottlieb konnte nicht mehr folgen. Er kriegte mit, daß hinten  ein  paar  Frauenstimmen  für  ihn  sprachen  und  daß  die  Mehrheit  dann  diese  Sympathisantinnen  eines  Besseren  zu  belehren suchte: moralisch, politisch, philosophisch. Es ging  um  die  Wörter.  Guilt,  debt,  selfreproach,  bad  conscience,  hypocrisy.  Gottlieb  war  nicht  mehr  gefragt,  das  kriegte  er  mit.  Denen,  die  ihn  verteidigen  wollten,  konnte  er  nicht  helfen.  Beate  beteiligte  sich  auch  nicht.  Seine  Verteidi erinnen, das hörte er, ohne sich umzudrehen, mußten ältere  Damen sein; eine wies darauf hin, daß sie aus einer Familie  von Holocaustüberlebenden stamme. Es wurde ihr gesagt, es  sei ihre Sache, ganz und gar ihre Privatsache, wenn sie sich  mit  einem  deutschen  Entlastungsmanöver  dieser  Art  befreunden  könne,  kein  Mensch  könne  ihr  daraus  einen  Vorwurf  machen,  solange  sie  nicht  versuche,  ihrer  Privat sache universale Gültigkeit zu erstreiten. Rick Hardy hatte so  gut wie nichts mehr zu tun, so gut lief die Diskussion. Dann  und  wann  mußte  er  sagen:  Keep  your  remarks  brief,  und  schließlich:  Die  Kaffeepause  sei  ein  MUST ,  also  noch  eine  letzte  Wortmeldung.  Die  kam  von  Patricia  Best.  Sie  stand  auf, sprach ebenso zu Gottlieb wie zum Saal. Die kleine, eher  rundliche Person wuchs mit jedem Wort. Sie wuchs wirklich.  Sie sprach nicht einmal besonders laut. Mußte sie auch nicht.  Ihre  hohe,  eigentlich  sehr  hohe  Stimme  schwebte  über  dem  ganzen  Saal.  Das  sah  man.  Gottlieb  hatte  tatsächlich  den  Eindruck, als wüchsen auch die Zuhörer. Alle Hälse wurden  lang,  alle  Köpfe  hoben  sich.  I  liked  your  speech.  So  begann  sie. Dann sagte sie, daß auch heute noch das Gewissen eines  jeden  Menschen  von  der  Religion  gebildet  werde,  in  der  er  aufwachse.  Das  Gewissen  sei  das  Kostbarste,  was  unsere  Kindheit  in  jedem  von  uns  lebendig  erhalte.  Und,  bitte,  der  Atheismus  sei  ja  nichts  anderes  als  eine  Religion,  die  sich  zutraue,  ohne  Gott  auszukommen.  Tatsächlich  sei  jede  praktizierte,  gar  herrschende  Religion  in  Gefahr,  das  kostbare  Kindheitsgut  Gewissen  zur  Rezeptur  verkommen  zu  lassen.  Daß  die  Philosophie  darauf  kritisch  zu  reagieren  habe,  verstehe  sich  inzwischen  von  selbst.  La  Mettrie  habe  das  getan.  Einzigartig.  Großartig.  Nachträglich  seiner  Gewissenskritik  Reservate  anzuweisen,  in  denen  allein  sie  angewendet  werden  dürfe,  komme  ihr  vor  wie  freiwillige  Kurzsichtigkeit, die gebe es aber in der Natur nicht, und die  Wissenschaft  sollte  nicht  versuchen,  gerade  darin  die  Natur  zu  korrigieren.  Dann  wolle  sie,  müsse  und  könne  sie  dem  Herrn  Referenten  versichern,  daß  das  Problem  der  Transzendenz vom Deutschen zum Menschen ganz und gar  nicht  nur  sein  Problem  ist.  Solange  es  noch  Nationen  gibt,  und  es  wird  sie  ganz  sicher  nicht  ewig  geben,  muß  es  und  wird es diese Einladung zur Überwindung des nur Angebo renen  geben.  Die  herzliche  Theatralik  mit  der  der  Referent  den  Emanzipationskitzel  vor  uns  ausgelebt  hat,  hat  mich  gerührt. 
Aus verschiedenen Saalquartieren heftiger Beifall. Aber da  und dort gab es auch Zischen. 
Rick  Hardy  übernahm:  Er  sei  immer  wieder  glücklich,  wenn  er  Patricia  Best  in  ihrer  sibyllinischen  Laune  erlebe.  Und lachte. Vielen Dank, Patricia! 
Jetzt  Professor  Rosenne.  Er  sei  auch  glücklich  über  diesen  Anfang der Tagung. Daß La Mettrie immer noch ein Unruhe stifter  sei,  mache  ihn  glücklich.  Gestern  Abend  habe  er  drüben in San Francisco in Chinatown Abend gegessen. Die  Chinesen lieferten ja zu jedem Dinner ein Cookie, ein fortune  Cookie,  das  man,  wenn  man  Sprachliches  nicht  wegwerfen  kann,  einstecke,  in  der  Hoffnung,  eine  Situation  zu  erleben,  in  die  der  Spruch 

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