Der Augenblick der Liebe
zurückging, gab¹s noch Extrabeifall. Deutlich für ihre Vortragsleistung.
Rick Hardy rief hell und lebhaft zur Diskussion auf. Als sich niemand meldete, sagte er, er werde einmal den Anfang machen. Vielleicht sei der Referent inzwischen wieder bei Stimme. Schon flüstern könne bei der vorzüglichen Verstär keranlage von Dwinelle Hall eine Kommunikation ermög lichen. Gottlieb sah und hörte und spürte, wie unvollständig Beate ihm diesen Rick Hardy geschildert hatte. Eine Stimme wie ein italienischer Tenor. Eine gelbe Lederweste, aus der ein weißer Rollkragen unmäßig herausquillt. Ein vorne aufknöpfbarer Rollkragen. Wahrscheinlich aus Seide oder feinster Baumwolle. Und diese Lachbereitschaft! Er lachte seinen eigenen Sätzen hinterher. I like your attempt to con ceptualize your misere propre. Und lachte. Er wolle, sagte er, mit einem Zitat von T. S. Eliot beginnen. Bad poets copy, great poets steal. Und lachte. Warum er jetzt Eliot zitiere, sei ihm selber unbekannt. Aber Eliot paßt immer. Und lachte. Die Unlust des Auditoriums, sich zu Wort zu melden, könne damit zu tun haben, daß Mr. Krall weniger über La Mettrie und mehr über sich selbst gesprochen habe. Let me try to elucidate what Mr. Krall was trying to say. Und spezialisierte sich auf ein Wort: Schuldgefühle. Ein deutscher Intellektueller kommt an eine USEliteUniversität und versucht unter dem Vorwand, er spreche über La Mettrie, den Deutschen einen Freispruch zu erschwindeln. Zweifellos sei der späte La Mettrie eine Art Verführung zur Gewissenlosigkeit. Aber er hat aus allzu einsichtigen Gründen nicht daran gedacht, die Deutschen aus ihrer von ihnen selbst verschuldeten Schuld zu erlösen. Schluß mit Schuldgefühlen! Das aus dem Mund eines Deutschen! La Mettrie hat, als er die Menschheit von Schuldgefühlen befreien wollte, nicht an Völkermord ge dacht, sondern an Ehebruch und dergleichen. Insofern ist der Coup, den ein konvertierter Altachtundsechziger hier zu landen versuche, fast schon jenseits des akademisch Tole rierbaren. Massage gegen Gewissensbisse! Und das via Nietzsche! Wer Professor Rosennes NietzscheVorlesung gehört habe, könne einen so unreflektierten NietzscheGe brauch nicht ohne Gänsehaut zur Kenntnis nehmen. Sollte er in seinem Versuch, die Diskussion zu entfesseln, zu weit gegangen sein, bitte er um Widerlegung dessen, was er gesagt habe und was er allerdings unter allen Umständen sagen würde. Kräftiger Beifall.
Das war eine vorbereitete, geplante, vielleicht sogar mit dem Professor abgesprochene Diskussionseröffnung. Gott lieb stand auf, ließ sich, zur Sicherheit, von Beate den Hardy Text noch einmal zusammenfassen, dann flüsterte er Beate ins Ohr und sie sagte es laut auf Englisch weiter: Er sei überrascht. An all das, was Mr. Hardy in seinem Vortrag ent deckt habe, habe er nicht gedacht. Trotzdem seien Mr. Hardy¹s Bemerkungen ernst zu nehmen. Für einen Deut schen ganz besonders. Remords nennt La Mettrie, was deutsch Gewissensbisse oder Schuldgefühle heißt, und auf Englisch vielleicht bad conscience oder feeling guilty oder selfreproach. Wie auch immer man¹s übersetze, La Mettries Versuch, Schuldgefühle zu demontieren, stehe im Discours sur le Bonheur. Und das ist nicht die witzige Abrechnung mit remords, wie sie die Boulevardkomödie pflegt. Autre reli gion, autre remords, heißt es da zwar, aber dann wird gründlich gefragt, wozu remords überhaupt gut sind. Für den Menschen. Für die Gesellschaft. Es geht um die Glückseligkeit der Menschheit, die nicht gestört, zerstört werden soll durch nichtsnutzige Schuldgefühle. La Mettrie fragt
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