Der Augenblick der Liebe
protestantischen Län dern kämen. Daß aber auch protestantische Gegenden aus ihrem Anstandsschatten heraustreten können, beweise das Gastgeberland, die USA .
Einen Satz des Professors notierte Gottlieb sofort und verbarg nicht, daß er das tat. Deutsch zitierte der Professor einen Satz von Nietzsche: Der Glaube an den Leib ist funda mentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt). Dann also, Herr Dr. Wendelin Krall. Sein Thema: Rise to the occasion. Bitte, Herr Dr. Krall.
Wenn ein Amerikaner deinen Namen mit Herr versieht, klingt das wie ein Distanzierung. Wenn du daheim einen als Mr. Rosenne ankündigen würdest, klänge das nicht kritisch. Vielleicht liegt es an diesem Herr. Vielleicht wissen die Ausländer, was für ein Wort das ist. Vielleicht denken sie tatsächlich an Herrenrasse. Gottlieb mußte anfangen. Rise to the occasion. Er fing vorsichtig an, versuchte aber zu zeigen, daß es die Fremdsprache war, die ihn vorsichtig machte. Der Schwung würde dann schon kommen. Der La Mettrie Schwung: á la Nature l¹ Honneur qu¹elle merite. Noch redete er vor sich hin. Gab den Schüchternen. Schonte er sich? War etwas mit seiner Stimme? Wagte er schon gar nicht mehr, draufloszusprechen? Und bei der ersten Umschaltung ms Französische, la douceur de mon caractére, spürte er einen Stich im Hals, sprach aber weiter, konzentrierte sich weniger darauf, ob der Stich schärfer werde, als auf den Text, versprach sich aber gleich zum ersten Mal. Der Stich nahm zu. Wenn der so zunehmen würde, könnte er bald nicht mehr weiterlesen. Aber wegen eines Stichs würde er nicht aufhören. Sollte es wehtun, das ging ihn nichts an. Er hatte einen Nagel im Hals. Bitte, dann sprichst du eben mit einem Nagel im Hals. Es gibt Schlimmeres als einen Nagel im Hals. Kein Schmerz der Welt würde ihn zwingen, das Referat, das ihn ganz enthielt, abzubrechen! Es war ihm weder schwind lig noch schlecht. Er hatte nur diesen Nagel im Hals, der bei jedem Wort zustach. Sollte er! Das tat weh. Bitte, sollte es wehtun! Nachher würde er Beate genau schildern, was das für eine Qual war, bei jedem Wort dieser Stich, und wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, er spreche für sie nur für sie, hätte er diese Tortur nicht überstanden. Er sprach für Beate! Aber als er zum ersten Zitat aus dem Dictionnaire Universel kam, machte die Stimme nicht mehr mit. Es gab sie nicht mehr. Er konnte seiner Kehle, den Stimmbändern, dem Mund befehlen, was er wollte. Nichts als ein Krächzen. Das klang grotesk. Lieber nichts mehr als dieses Krächzen. Erledigt. Aus. Da stand schon Rick Hardy vor ihm, der hatte schon Kontakt mit Beate, der sagte schon an, solange der Referent nicht bei Stimme sei, werde Beate Gutbrod, sowohl Übersetzerin dieses Textes wie gerade beim Schreiben einer Doktorarbeit über La Mettrie, den ihr durchs Übersetzen geläufigen Text vorlesen.
Bitte, Beate.
Beate sprechen die hier tatsächlich ziemlich schräg aus, dachte Gottlieb und ging, den Blick auf dem Boden, zu dem Stuhl, auf dem er schon gesessen hatte. Beate las, er konnte nicht zuhören. Sie las das Englische perfekt. Perfekt ameri kanisch. Aber er konnte nicht folgen. Er schluckte, er ver suchte, in der Stimmbandgegend eine Empfindung zu wecken. Er spürte nichts als den Nagel. Auch ohne daß er sprach, stach in seiner Kehle ein Nagel. Als Beate geendet hatte, wurde, auf akademische Art, ein höflicher Beifall gespendet. Aber als sie auf ihren Platz
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