Der Augenblick der Liebe
Die erste Minute sagt es, entscheidet es. Man kann sich natürlich täuschen. Und getäuscht werden. Nichts ist so ungesichert wie ein Wiedersehen. Nichts müßte so einfach sein wie ein Wiedersehen.
Gottlieb konnte sich nicht vorstellen, daß dieses Wieder sehen am Flughafen in Stuttgart mißraten könnte. Schließlich hatte er zweimal umgebucht. Das mußte ihr doch etwas sagen. Und als er seine zwei Gepäckstücke abstellte, um ihr die Hand zu geben, sie dabei ein wenig zu sich herzog und dann umarmte und dann nicht links und rechts mit Lippen berührung abfertigte, sondern sie einigermaßen drückte und presste, fast schüttelte, da spürte er: Dieses Wiedersehen ist gelungen. Es herrschte unbesprochenes Einvernehmen darüber, daß jetzt nicht viel zu reden sei. Gottlieb präsen tierte ihr, was er im Flughafen Dulles gekauft hatte: Chanel Nr. 5. Dazu grinste er, damit sie sehe, daß er einen früheren Gottlieb imitiere, auch ein bißchen parodiere. Aber dann mußte er doch noch sagen: Ich liebe dich wieder einmal wie noch nie.
Die Fahrt in der Frühlingssonne empfand er als einen theatralischen, das heißt übertriebenen, das heißt sich ver selbständigenden Ausdruck einer Gemeinsamkeit. Fraglos einig. Aber Anna störte noch einmal. Mitten in die Musik, von der er sich jetzt ausgefüllt und bewegt fühlte, mußte sie die neuesten Kindernachrichten bekanntgeben. Gestern habe Julia angerufen. Mit der leblosen Stimme. Die Mutter sollte leiden unter dieser leblosen Stimme. Sie sollte nachfragen: Julia, was ist los, was fehlt dir. Das habe sie getan. Und Julia: Sie weiß nicht, wer sie ist. Mehr nicht. Schweigen. Aufgelegt. Gottlieb steuerte bei: Als das letzte Mal alle dagewesen waren, hatte Julia ihn zum Essen gerufen, er war gekommen, Regina fehlte noch, also hatte er gesagt: Du hast eine schöne Stimme, ruf Regina zum Essen. Da sie sich weigerte, rief er, Julia imitierend, Regina zum Essen. Regina kam, Julia ging. In ihr Zimmer. Am Essen nahm sie nicht teil. Als sie an ihm vorbeigegangen war, hatte sie gesagt: Kabarettist. Ja, sagte Anna und übernahm. Am letzten Sonntag, unsere Erlangerin. Zwei Tage davor ein Brief, ein echter Magda Brief, du mußt ihn lesen. Dann steht sie vor der Tür, bleibt eine kurze Nacht. Redet nicht viel. Du kennst sie ja. Inhalt: Sie habe zum Glück, seit sie aus der Schule sei, kein Glück mehr gehabt. Also auch keine Enttäuschung mehr. Ihre Arbeit sei zum Glück so spannend, daß sie nicht dazu komme, irgend etwas zu vermissen. Die Mehrwertsteuerent wicklung sei ein einziges Abenteuer. Und daran mitzuwir ken, erlebe sie als Privileg. Und zweimal pro Woche im Chor zu singen sei Levitation pur. Sie habe den Chor gewechselt. Nicht mehr im MatthäusChor, sondern im Altstädter. Von ihrem Schwarzen nichts. Und Regina, sagte Anna. Gottlieb mußte also fragen: Ja. Was ist mit Regina? Jetzt bleibt mir nur noch der Zirkus selbst, habe Regina gesagt. Sie trainiere, weil die Agentur andauernd am Kippen war und jetzt gekippt ist, seit zwei Jahren eine Nummer. Mit einem Chinesen. Regina an einem aufrecht stehenden Sarg, der Chinese wirft, als Indianer kostümiert, mit verbundenen Augen siebenund zwanzig Messer auf Regina. Sie ist, daß sie nicht hin und her zucken kann, an den Sarg gefesselt. Sie singt eine Melodie, eine in dreizehn Tönen aufsteigende, auf einem Höhepunkt ankommende und dann in dreizehn Tönen absteigende Melodie, Vorbild: der Sterbegesang der Apachen. Der India nerChinese wirft die Messer Ton für Ton, er wirft also nach dem Gehör.
Unglaublich, sagte Gottlieb.
Und Anna: Stimmt.
Die Szene erinnerte Gottlieb an die
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