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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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man  eine  Frau schön nennt, die, normenbesetzt, sich selber nicht schön  findet,  vermindert  man  dadurch  nur  die  eigene  Zurech nungsfähigkeit. Daß sie aber schön gewesen war, sah er jetzt  auf  diesen  Bildern.  Sie  müssen  eben  alles  universalisieren,  die  Moralnormen  wie  die  Schönheitsnormen.  Es  gibt  keine  mächtigere Industrie als die der Normierer. Seine Sehnsucht  nach  Anna  war  immer  mit  dem  verbunden,  was  sie  erlebt  hatten.  Er  flog  auf  sie  zu.  Er  war  das  ganze  Flugzeug  und  flog direkt auf Anna zu. Das spürte er. Die Anziehungskraft  der unlösbaren Probleme. Am meisten bindet Leid. Er hätte  singen  können.  Keine  Spur  mehr  von  dem  Nagel  in  der  Kehle.  Und  sagte  sich  vor:  Ich  liebe  die  faltigen  Äpfel  im  Januar, alt, gelb, als wären sie leberkrank. Ekelhaft sind mir  die polierten knackigen grünen. Wie wahr alles Unwahre ist.  Er  und  Anna  haben  ein  Geschlechtsleben  entwickelt,  das  auch  in  Zeiten  tiefster  Niedergeschlagenheit  ausgeübt  werden kann. So. Darauf kann er sich verlassen. 
    Die   Ankunft  in  Frankfurt  um  7  Uhr  30  sagte  der  Kapitän  mit größter Selbstverständlichkeit voraus. Um 8 Uhr 30 nach  Stuttgart, Landung dort um neun. Und wenn das Gepäck da  ist  und  Anna  da  ist,  dann  ist  alles  gut  gegangen.  Er  würde  nicht  von  diesem  Ausflug  träumen.  Er  träumte  nur  von  Orten  oder  Personen,  mit  denen  er  jahrelang  zu  tun  gehabt  hat.  Er  war  noch  nie  so  direkt  auf  Anna  zugereist.  Anna  würde nicht in der vordersten Reihe der Wartenden stehen.  Sich durch Vordrängen auszudrücken, liegt ihr nicht. Als sie  Gottlieb  einmal  nach  einer  Zehntagetour  in  der  Autobahn raststätte  Neckarburg  abholte,  um  11  Uhr  nachts,  erzählte  sie,  sobald  sie  im  Auto  saßen,  was  ihr  am  Nachmittag  ein  Kunde  erzählt  hatte.  Der  war  von  einer  Zweiwochenreise  zurückgekehrt,  hatte  bemerkt,  daß  seine  Frau  einen  Mund geruch  hatte.  Hatte sie  den  immer  schon  gehabt?  Nein.  Der  war neu. Wie sollte er jetzt davon anfangen. Er konnte nicht  sagen:  Dein  Atem  riecht  nicht  mehr  so  gut  wie  früher.  Diesem  Mann  war  sofort  klar,  daß  er  vorerst  nichts  sagen  konnte.  Und  er  fragte  sich,  was  alles  seine  Frau  an  ihm  bemerke  und  nicht  ausspreche.  Ein  Ehepaar,  zwei  zuneh mende  Verschwiegenheiten.  Anna  hatte  dem  Mann  eine  differenzierte  TeeAnweisung  für  seine  Frau  gegeben,  der  Mann  hat  zwar  die  Wohnung,  die  Anna  ihm  angeboten  hatte,  nicht  gekauft,  aber  er  hatte  sich  bei  Anna  herzlich  bedankt  für  den  Rat,  der  Wunder  gewirkt  habe.  Die  Frau  hatte  keinen  Mundgeruch  mehr.  Gottlieb  holte  diese  Erinnerung  herein,  weil  er  jene  nächtliche  Heimkehr  und  Heimfahrt mehr erlitten als erlebt hatte. Daß Anna ihn nach  einer Zehntagetour abholt, er übernimmt das Steuer, sie sitzt  neben ihm und sie fahren durch eine mondhelle Nacht − es  war  Frühling  wie  jetzt −,  und  sie  erzählt  diese  blödsinnige  Mundgeruchsgeschichte  als  Erfolgsgeschichte  und  raucht  dabei  eine  Zigarette  nach  der  anderen.  Das,  Anna,  dachte  Gottlieb,  als  das  Flugzeug  sich  auf  Stuttgart  hin  senkte,  das  darf  nicht  noch  einmal  passieren.  Er  hätte  sich  durchsetzen  müssen  gegen  die  blöde  Mundgeruchsgeschichte.  Aber  er  war  so  enttäuscht  gewesen.  Die  Ausführlichkeit  Annas  war  das  Enttäuschendste.  Die  nichtswürdige  Genauigkeit.  Auf  ihn  hatte  das  gewirkt  wie  eine  geplante,  inszenierte  Abhal tung.  Und  selbst  wenn  es  das  nicht  war,  war  es  eine  unbe wußte,  La  Mettriesch  gesprochen,  automatische  Entziehung  und  Verhinderung.  Heute  durfte  sie  mit  dergleichen  nicht  kommen.  Ein  Wiedersehen  demonstriert  jedes  Mal,  ob  die  beiden auf einander zugelebt oder an einander vorbeigelebt  haben. 

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