Der Augenblick der Liebe
man eine Frau schön nennt, die, normenbesetzt, sich selber nicht schön findet, vermindert man dadurch nur die eigene Zurech nungsfähigkeit. Daß sie aber schön gewesen war, sah er jetzt auf diesen Bildern. Sie müssen eben alles universalisieren, die Moralnormen wie die Schönheitsnormen. Es gibt keine mächtigere Industrie als die der Normierer. Seine Sehnsucht nach Anna war immer mit dem verbunden, was sie erlebt hatten. Er flog auf sie zu. Er war das ganze Flugzeug und flog direkt auf Anna zu. Das spürte er. Die Anziehungskraft der unlösbaren Probleme. Am meisten bindet Leid. Er hätte singen können. Keine Spur mehr von dem Nagel in der Kehle. Und sagte sich vor: Ich liebe die faltigen Äpfel im Januar, alt, gelb, als wären sie leberkrank. Ekelhaft sind mir die polierten knackigen grünen. Wie wahr alles Unwahre ist. Er und Anna haben ein Geschlechtsleben entwickelt, das auch in Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit ausgeübt werden kann. So. Darauf kann er sich verlassen.
Die Ankunft in Frankfurt um 7 Uhr 30 sagte der Kapitän mit größter Selbstverständlichkeit voraus. Um 8 Uhr 30 nach Stuttgart, Landung dort um neun. Und wenn das Gepäck da ist und Anna da ist, dann ist alles gut gegangen. Er würde nicht von diesem Ausflug träumen. Er träumte nur von Orten oder Personen, mit denen er jahrelang zu tun gehabt hat. Er war noch nie so direkt auf Anna zugereist. Anna würde nicht in der vordersten Reihe der Wartenden stehen. Sich durch Vordrängen auszudrücken, liegt ihr nicht. Als sie Gottlieb einmal nach einer Zehntagetour in der Autobahn raststätte Neckarburg abholte, um 11 Uhr nachts, erzählte sie, sobald sie im Auto saßen, was ihr am Nachmittag ein Kunde erzählt hatte. Der war von einer Zweiwochenreise zurückgekehrt, hatte bemerkt, daß seine Frau einen Mund geruch hatte. Hatte sie den immer schon gehabt? Nein. Der war neu. Wie sollte er jetzt davon anfangen. Er konnte nicht sagen: Dein Atem riecht nicht mehr so gut wie früher. Diesem Mann war sofort klar, daß er vorerst nichts sagen konnte. Und er fragte sich, was alles seine Frau an ihm bemerke und nicht ausspreche. Ein Ehepaar, zwei zuneh mende Verschwiegenheiten. Anna hatte dem Mann eine differenzierte TeeAnweisung für seine Frau gegeben, der Mann hat zwar die Wohnung, die Anna ihm angeboten hatte, nicht gekauft, aber er hatte sich bei Anna herzlich bedankt für den Rat, der Wunder gewirkt habe. Die Frau hatte keinen Mundgeruch mehr. Gottlieb holte diese Erinnerung herein, weil er jene nächtliche Heimkehr und Heimfahrt mehr erlitten als erlebt hatte. Daß Anna ihn nach einer Zehntagetour abholt, er übernimmt das Steuer, sie sitzt neben ihm und sie fahren durch eine mondhelle Nacht − es war Frühling wie jetzt −, und sie erzählt diese blödsinnige Mundgeruchsgeschichte als Erfolgsgeschichte und raucht dabei eine Zigarette nach der anderen. Das, Anna, dachte Gottlieb, als das Flugzeug sich auf Stuttgart hin senkte, das darf nicht noch einmal passieren. Er hätte sich durchsetzen müssen gegen die blöde Mundgeruchsgeschichte. Aber er war so enttäuscht gewesen. Die Ausführlichkeit Annas war das Enttäuschendste. Die nichtswürdige Genauigkeit. Auf ihn hatte das gewirkt wie eine geplante, inszenierte Abhal tung. Und selbst wenn es das nicht war, war es eine unbe wußte, La Mettriesch gesprochen, automatische Entziehung und Verhinderung. Heute durfte sie mit dergleichen nicht kommen. Ein Wiedersehen demonstriert jedes Mal, ob die beiden auf einander zugelebt oder an einander vorbeigelebt haben.
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